Samir M'Kirech in Lloyd Newsons „Can We Talk About This?"
Samir M'Kirech in Lloyd Newsons „Can We Talk About This?"

Gegen das (Ver)schweigen

„Can We Talk About This?“: Lloyd Newsons DV8 Physical Theatre bei der Spielzeit Europa

Berlin, 29/10/2011

Nach der Uraufführung im Opernhaus Sydney am 25. August 2011 und nach Gastspielen in Hongkong, Wien und Rom dockt Lloyd Newson mit seinem DV8 Physical Theatre London zum dritten Mal am Haus der Berliner Festspiele an. „Veränderbare Welten“ heißt das Motto der diesjährigen Spielzeit Europa und Lloyd Newsons „Can We Talk About This?“ führt nach seinem engagierten Projekt „To Be Straight With You“ (2008) erneut einen radikal aufwühlenden Diskurs, der auf gesellschaftliche Veränderung des Status quo zielt.

Die neue Londoner Produktion ist dem grenzenlosen Denken in Zeiten des „Scheiterns des Multikulturalismus“ verpflichtet und befragt (vor dem Hintergrund der aktuellen Situation in Großbritannien) vielstimmig und eindringlich die gegenwärtigen demokratischen Gesellschaften und die in ihr geborenen und lebenden Muslime nach den geltenden Werten des Zusammen-, Nebeneinander- oder Gegeneinander-Lebens. „Sind wir dahin gekommen, dass wir die Minderheiten und Freiheiten, die wir eigentlich schützen sollten, verraten aus Furcht davor, unsere Meinung zu äußern und Anstoß zu erregen?“ – fragt Regisseur Lloyd Newson (Jahrgang 1957) auf Plakat und Programmheft zur deutschen Erstaufführung.

Newsons politisch ambitioniertes Dokumentar-Bewegungs-Theater untersucht in der Spanne von 1984 bis 2011 den Einfluss von Ereignissen wie die Bücherverbrennung von Salman Rushdies Satanischen Versen, dem Mord an Theo van Gogh oder dem Streit über die Mohammed-Karikaturen auf Politik, Medien und Gesellschaft. Newson (Konzept und Regie) nutzt erneut Archivmaterial und von DV8 selbst geführte Interviews mit Persönlichkeiten quer durch das kulturelle, religiöse, politische und soziale Spektrum. Im Zentrum stehen divergierende Meinungen zum Thema Redefreiheit und Zensur, Stellung der Frau, Einstellung zu Homosexualität innerhalb der muslimischen Communities in der westlichen, dezidiert britischen Gesellschaft.

„Fühlen Sie sich den Taliban überlegen?“ fragt ein Mann gleich zu Beginn ins Publikum und fordert die Zuschauer auf die Hände zu heben. In den folgenden 75 Minuten wird das DV8-Ensemble aus sechs Männern und drei Frauen zum Diskussionsforum über die brüchigen Wertvorstellungen der islamischen und westlichen Welt.

„Can We Talk About This?“ prägt sich nicht durch die Bildsprache oder die Bewegungsmetaphern ein, sondern lebt 75 Minuten lang primär von einer temporeichen verbalen Polemik aller neun Performer. Ihre pausenlosen Wort-Gefechte eröffnen wechselnde Perspektiven auf Tabuthemen im 21. Jahrhundert. Die Darsteller schieben sich allein oder in ständig wechselnden Gruppierungen durch die Wände ins Wort-Gefecht einer offenen Bühne. Sprechend schlüpfen sie in die wechselnden Identitäten und werden zum beweglichen Sprachrohr der vierzig Interviewpartner (Einzelpersonen und Organisationen, die im Programmheft aufgelistet den Umfang der kollektiven Recherchevorbereitung zum Thema spiegeln).

Tanz findet nicht statt. Die großartigen Performer wissen genau, wovon sie sprechen. Sie agieren gestisch präzise, während ihre Körper meist in kurzen Bewegungssequenzen zucken; gebrochene Gebärdensprache von ständigen Schlägen verrückt, denn alle Sicherheiten weichen ständig im dahinjagenden Disput der Meinungen. Zwei Männer hüpfen umeinander und dialogisieren und skandieren den kommenden Sieg des Islam bis plötzlich auf TV-Bildern Gegen-Demonstrationen fanatisierter Briten eingespielt werden, die die Moslems als dreckigen Abschaum beschimpfen und so den Bühnendialog hart kontrastieren, ebenso als der englische Premier David Cameron während seiner Münchener Rede 2011 eingespielt wird, da er von „getrennten Kulturen“ innerhalb der britischen Gesellschaft spricht. Newson und sein Team versuchen im schnellen Wechsel der Argumente provozierende Denkanstöße für komplizierte gesellschaftliche Sachverhalte zu geben. Auch wenn die Brisanz der Vorgänge aus deutscher Sicht nicht vergleichbar ist, so steht fest, dass intellektuelle Unwissenheit auf beiden Seiten Islamphobie und islamistischen Fundamentalismus am Leben hält.

Das Stück ist ein temporeiches Puzzle aus Einzelszenen. Akteure treten nacheinander mit Schwarzweiß-Fotos von getöteten liberalen Künstlern, Intellektuellen, Politikern, Journalisten, Menschenrechtlern auf, die Fotos fallen wie Blätter zu Boden, während die jahrzehntelange Liste der religiös motivierten Gewalttaten wie eine endlose Nachrichtenschleife aufgesagt wird. Mehrfach aufgegriffen wird die Thematik von häuslicher Gewalt, der Zwangsehen muslimischer Frauen und vom Ehrenmord.

Eindrucksvoll ist der Monolog einer „Labour-Abgeordneten“: Die Darstellerin zitiert ihre Versuche, die Parlamentsabgeordneten für das Thema zu interessieren, während sie mit der Tasse Tee in der Hand von einem Performer wie ein einsamer widerständiger Grashalm im Wind des Schweigens gehalten wird. In einem langen Männer-Monolog mit ständig gebrochenen Körperbewegungen und trippelnden Schritten knetet der Darsteller das Problem der Interpretationshoheit ergebnislos. Der religiöse Extremismus unter muslimischen Jugendlichen gebiert nicht nur in Großbritannien eine inquisitorische Haltung. Doch es geht darum, religiöse Botschaften nicht durch Gewalt zu entstellen. Newsons Dokumentar-Theater ist eine eindringliche Aufforderung, einzig die Menschenrechte als grundsätzlichen Bezugspunkt für das gesellschaftliche Zusammenleben zu fokussieren und ihre Einhaltung unabhängig von religiöser und gesellschaftspolitischer Ausrichtung in jedem Land einzufordern. Das DV8 Ensemble besticht in der körpersprachlichen Präzision der Monologe, Dialoge und Gruppendebatten dieses Fragen-Marathons. „Can We Talk About This?“ ist ein mutiges Stück, das einen wachen Zuschauer und Zuhörer braucht, um Veränderungen zu denken.

Letzte Vorstellung in Berlin: 29. 10. 2011, 20:00 Uhr

www.dv8.co.uk

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