Nanine Linning: „Cry Love“

Nanine Linning: „Cry Love“

Getanzte Körperwelten

Deutsche Erstaufführung von Nanine Linnings „Cry Love“

Osnabrück, 16/11/2011

Wie Schlachtvieh baumeln sie kopfüber vom Schnürboden, zappeln wie Köder an der Angelschnur. Wispernd defilieren an die 600 Menschen über die Bühne, gaffen nach oben, gaffen weiter von ihren Plätzen im Zuschauerraum. Zwanzig lange, kurzweilige Minuten dauert dieses makabre Szenario, das Erinnerungen an die Ausstellung „Körperwelten“ wachruft. Aber hier handelt es sich um acht „Portionen“ Lebendgewicht – um menschliche Gefühle gar, wie Nanine Linning im Programmheft versichert. Als einen „Linning-Klassiker“ kündigt das Theater Osnabrück stolz die Deutsche Erstaufführung von „Cry Love“ (Uraufführung 2005) an. Um lieben und geliebt werden bis an die Schmerzgrenze vom Mutterleib bis zum Tod geht’s hier - hochathletisch, superartistisch, animalisch und mitunter anrührend menschlich. Das eindringlichste Bild findet im Halbdunkel an der Rampe statt: wie von unsichtbaren Mächten gezogen, schreitet ein Mann gemessen von links nach rechts; die Frau sucht ihn zu halten, klammert sich schließlich mit beiden Händen verzweifelt an sein Fußgelenk – vergeblich: so groß die Liebe auch sein mag – immer endet sie schmerzvoll mit dem Tod des einen Partners.

Insgesamt aber sind kaum je Emotionen auszumachen in dieser Videoinstallation mit Tanz (Video: Erik Lint, Roger Muskee; Bühne/Licht: Richard Bron; Kostüme: Petra Finke). Mit unglaublicher Sinnlichkeit allerdings, zuweilen alptraumartig ziehen die bunten Bilder und Doppelbilder auf den Gazevorhängen den Beschauer in ihren Bann: entstellte Gesichter, Organe, Gliedmaßen, Tierhäute, -zig Augenpaare. Wie wuselnde Winzlinge in einem gläsernen Käfig wirken die fast nackten Leiber und Gliedmaßen der fünf Tänzer und vier Tänzerinnen darin. Sie verknoten sich mit einander, streben von einander weg, grabschen, ringen, kosen, klammern. Immer wieder kauern sie sich in embryonaler Haltung zusammen, staksen ungelenk wie Urgetier auf der Pirsch. Gebückt wie Neandertaler tapsen sie durch den Raum, kauern im Pulk, recken die Arme in die Höhe. Paare finden zu einander, flüchten vor einander. Zu Jacob ter Veldhuis‘ stark von Phil Glass‘ Minimalmusik inspirierter Klangkulisse kulminiert im lauten Herzpochen über dem Crescendo der Sphärenklänge die Bilderflut als dichtes Gedränge der Menschen. Vom Schnürboden hängen reglos acht schwarze Körper.

„Cry Love“ ist ein sehr typisches Linning-Stück mit deutlichen Anleihen bei „Bacon“ und „Requiem“ – in der konsequenten Verschmelzung von Videokunst, Bühneninstallation, Musik und Tanz auf hohem Niveau ein brillantes Beispiel zeitgenössischen Tanzes.

www.theater-osnabrück.de
www.naninelinning.nl

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