Giselle geht ins Kloster – und wieder raus

Richard Wherlocks freche Version des Ballettklassikers in Basel

Basel, 14/01/2011

Das berühmteste aller romantischen Handlungsballette, „Giselle“ zur Musik von Adolphe Adam, wurde 1841 in Paris zur Choreografie von Jean Coralli und Jules Perrot uraufgeführt. Bald gelangte das Tanzwerk nach St.Petersburg, wo sich auch Marius Petipa in seine Geschichte einfädelte. Unter den zahllosen späteren Choreografien des Stücks sticht die Version des Schweden Mats Ek (1982) in Stockholm besonders hervor. Seine Giselle ist ein leicht zurückgebliebenes Naturkind. Nach dem Scheitern ihrer Liebe zu einem feinen Stadtmenschen stirbt sie nicht an gebrochenem Herzen, sondern landet in der Irrenanstalt. Statt der Wilis in ihren weissen Schleierröcken im Wald geistern hier verstörte junge Frauen in weissen Anstaltskleidern herum.

Richard Wherlocks „Giselle“, am 12. Januar 2011 im Theater Basel uraufgeführt, erinnert in der Exposition an Mats Eks Version. Das Mädchen vom Land verliebt sich in einen Mann aus der Stadt, der aus einer feineren Gesellschaftsschicht stammt und eine standesgemässe Verlobte hat. Doch Wherlocks Giselle ist ein ungewohnt robustes Mädchen, die sich zu wehren weiss – auch dann, wenn sie von ihrem Vater in ein Kloster gesteckt wird. Sie zettelt dort gar einen Aufstand an und schreitet am Schluss, selbstsicher und emanzipiert, durch die sich spaltende Rückwand hinaus in die Freiheit. Sozusagen ein Happy End.

In Debora Maiquez Marin hat Wherlock eine hervorragende Interpretin seiner Giselle gefunden. Marin gibt sich nicht als zartes zerbrechliches Wesen, sondern als robuste, bodenständige Person. In braunem Rock, die Füsse in Schläppchen gesteckt – gleich aufgemacht wie die übrigen Dorfschönheiten - stapft sie durch die erdige Landschaft, winkelt Hände und Füsse ab, wütet breitbeinig durch die Gegend. Mit Hilarion (Jorge Garcia Pérez), ihrem offiziellen Freund, wirbelt sie vergnügt herum, betreibt Eifersuchtsspielchen, lässt sich schräg in die Lüfte heben. Bis sie sich in den feineren Albrecht aus der Stadt (Marius Razvan Dumitru) verliebt…

Hilarion, Albrecht und auch Giselles Vater (Sergio Bustinduy), der die sonst übliche Mutterfigur ersetzt – ihnen allen hat Wherlock ein paar tolle Auftritte zugedacht. Die Tänzer bewältigen sie entsprechend engagiert und lustvoll. Zu den Spezialitäten des Choreografen gehört es, möglichst viele Tänzerinnen und Tänzer gelegentlich auf der Bühne brillieren zu lassen. Wherlock schenkt diesen Szenen viel Phantasie und Witz. Eine Tugend, die sich nicht nur positiv auswirkt: Denn immer mal wieder geht ob all der Details der Handlungsfaden verloren. Das Divertissementhafte obsiegt, während Zwischentöne oder gar Gefühlspausen rar bleiben.

Der 2. Akt spielt im Kloster, wohin der Vater Giselle gebracht hat. Aber was für ein Kloster! Eine Mischung aus Kirchenraum, Ägyptertempel, Satansburg – wie aus einem Schauerroman (Bühne Bruce French, Kostüme Helena de Medeiros). Die Äbtissin trägt ein sexy durchsichtiges Kleid. Eine Art Domina, von Ayako Nakano geheimnisvoll zelebriert. Um sie scharen sich Novizinnen in weissen Röcken mit neckischen Accessoires sowie Nonnen in Schwarz – in Wirklichkeit verkleidete Männer! Alle unterstehen der Fuchtel der Äbtissin, bis sie von Giselle zum Protest aufgestachelt werden. Man erlebt prall-virtuose Tanzgaudi in diesem Kloster. Im gleichen 2. Akt entfalten sich aber auch drei Pas de Deux zwischen Giselle und ihren jeweiligen Partnern (Vater, Hilarion, Albrecht). Sie gehören zu den intensivsten Momenten in Wherlocks Choreografie.

Während sich die Choreografie weit vom Originalballett entfernt, läuft es mit der Musik umgekehrt. David Garforth, der das Sinfonieorchester Basel mit Verve dirigiert, hat für die Mailänder Scala schon vor längerer Zeit Adolphe Adams ursprüngliche Partitur freigelegt. Was später vor allem in Russland hinzu komponiert wurde, liess er fallen. Resultat: Die Musik wirkt farbiger denn je. Auch naiver – insbesondere, weil die Basler ungewohnt forsch spielen. Aber es geht auch ein bisschen Romantik verloren. Wie in der Choreografie auch.

www.theater-basel.ch

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern