Grenzzustände zwischen Leben und Tod

Die euro-scene Leipzig präsentierte Gastspiele aus neun Ländern

Leipzig, 12/11/2012

Floral poetisch fiel das Motto der 22. euro-scene Leipzig aus. Mit „Herbstzeitlose“ weist Festivaldirektorin Ann-Elisabeth Wolff auf die Ausnahmestellung jener Blume hin: Während andere Pflanzen sterben, treibt sie Blüten, enthält aber ein giftiges Alkaloid, haucht dem welkenden Herbst Sterben in Schönheit ein. Übertragen auf die menschliche Sozietät impliziert das Fragen nach Grenzzuständen wie Regel und Ausnahme, Leben und Tod. Beiträge für dieses Konzept fand Wolff in Theater und Tanz wieder europaweit. Zwölf Gastspiele aus neun Ländern sowie erneut einen Schwerpunkt Osteuropa gab es in 23 Vorstellungen an acht Spielorten zu besichtigen. Tanzkritik in dialogischer Partnerschaft zur Kunst stand im Zentrum von Workshops.

Zentrum des Festivals freilich blieben die Aufführungen. So kam aus Bielefeld mit Gastchoreograf Rainer Behrs titelgebendem Tanztheater „Herbstzeitlose“ die intensivste Auseinandersetzung mit dem Thema. Sein einstündiger Zeitkommentar spielt auf einer Halde aus Zivilisationsmüll. Durch das Tor in einer schwarzen Wand treten aus dem Dunkel die Tänzer gleich Ausgestoßenen ein. Wohnlich versuchen sie es sich zu machen, fallen in mechanische Aktivität, geraten aneinander, ohne Bindungen eingehen zu können. Tobend artikulieren sich Ängste, Fluchten stranden an der düsteren Klagemauer zum Nichts. „Ich bin wie ein Vulkan, kann jederzeit explodieren“, flüstert eine Frau, zerrt dabei einen Mann auf die Szene, legt ihn wie menschliches Gerümpel ab. Erfindungsreich, die Herkunft von Behrs Meisterin Pina Bausch nicht leugnend, zeigt die Choreografie Figuren vor dem Schutt ihrer Existenz, auf dem Treffpunkt Halde, mit teils rätselvollen Bildern von Geborenwerden bis Tod. Die Atmosphäre einer resignativen Zeitkritik teilt sich allemal mit, verstärkt durch den Rahmen einer Kirche als Spielstätte, die sinnfällig unterlegte Musik, hervorragende neun Tänzer.

Mit letzten Fragen beschäftigt sich, philosophisch zugespitzt, auch Oskaras Koršunovas, einer der litauischen Regiestars, in „Miranda“. Seine Adaption von Shakespeares „Der Sturm“ macht Prospero zum Sowjet-Verbannten, der in enger Zelle voller Tand und Büchern seine behinderte Tochter pflegt und mit ihr die Geschichte von den gestrandeten Feinden und möglicher Befreiung durchspielt. Diktatoren aber kennen keine Milde, schätzen nicht Geist. Erst nach Prosperos Tod scheint der erlösende Anruf zu kommen. Für die zwei Schauspieler ein Parforce-Ritt durch eine manchmal sperrige Inszenierung um unsichtbare, verhängnisvoll wirkende Machtstrukturen.

Auf starke Emotionen in Balance setzten zwei Produktionen mit Puppen respektive Masken. Dass Gut und Böse in Reinkultur nicht existieren, beweisen Kopp/Nauer/Vittinghoff aus der Schweiz. Ein Pfarrer will um jeden Preis die Welt bessern und nimmt vier Sozialfälle bei sich auf, geht jedoch Konflikten aus dem Weg, bis sie eskalieren und seine Existenz bedrohen. Zwei Akteure spielen sich selbst und steigen mehrfach disputierend aus der Handlung aus. Sie bedienen vier Puppen, Alkoholiker, türkischen Kleinganoven, Schwangere, Neonazi, von denen der friedlich-depressive Säufer sofort Sympathien gewinnt. Das von Film und Buch inspirierte „Jenseits von Gut und Böse“, frech, grotesk, absurd, anrührend, endet unentschieden: Auch Jesus weiß keine andere Lösung, als den Stecker zu ziehen. Mit Geburt und Tod, den Polen unseres Lebens, jongliert amüsant, souverän, virtuos die Familie Flöz aus Berlin. „Infinita“ zeigt mit exzellenten Darstellern in varianten Rollen, wie sich der Weg von drallen Babys zu gefurchten Alten vollzieht. Szenisches Maskentheater, während der Umbauten Schattenspiel zeichnen die Lebensalter von Entdeckung und Erfahrung, wieder im Umfeld eines Kirchenraums. Heitere Akzente hält die Greisenzeit bereit, trotz Leichenzug und Grab als finalen Punkten; Konkurrenz findet sich schon in der Kinderwelt. Nicht nur bei der euro-scene mag das Publikum frenetisch auf diese perfekte Melange der Gefühle reagieren.

Wenig überzeugen konnten zwei Programme mit meist performativen Soli aus Frankreich und Italien; das engagierte Stück „Yue Medlin Yue“ der Theatergruppe Qendra Multimedia aus Prishtina um die Abschiebung einer kosovarischen Roma-Familie aus dem Exil Deutschland, verknüpft mit dem Sterben ihrer verunfallten Tochter, beeindruckte als szenische Montage und litt gleichsam unterm bloßen Aufsagen der Texte. Diesmal aus Slowenien kam das obligate Kinderstück: feines Marionettentheater nach Becketts „Handlung ohne Worte“; Romeo Castellucci und Anne Teresa De Keersmaeker rahmten das Festival. Der euro-scene, diesmal noch mit rund 650.000 Euro ausgestattet und trotz erhöhter Preise zu gut 96 Prozent ausgelastet, drohen finstere Zeiten. Das Ende der Sponsorenschaft von BMW nach elf Jahren bedeutet rigide Finanzprobleme, auch wenn die Stadt Leipzig 75.000 Euro mehr zuschießt. Falls der Freistaat Sachsen nicht gleichzieht, wird das 23. Festival zeitliche und künstlerische Einschnitte nicht vermeiden können.

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