Tanz, Gesang, Wodka, Tee und Schwarzbrot

Das Tanzstück „Russendisko“ als bewegte Heimatkunde der anderen Art

Leipzig, 17/11/2012

Vier Frauen und zwei Männer. Sie leben in Leipzig, sie kommen aus Russland oder haben russische Wurzeln. Russisch ist die Sprache der einen, Deutsch die Sprache der anderen Heimat. Der tiefe innere Konflikt wird vermittelt, wenn einer der Darsteller Eichendorffs „Mondnacht“ in der Originalsprache mit dem originalen Akzent seiner Muttersprache rezitiert und die romantische Metapher von der Seele, die ihre Flügel weit ausspannt, durch die stillen Lande fliegt, „als flöge sie nach Haus“, sich auf ganz ungewöhnliche Weise erschließt. In dieser „Als-Ob-Situation“, in diesem unbestimmten Zustand eines nie endenden Konjunktivs scheinen sie sich zu befinden, die sechs Akteure des Tanzstücks „Russendisko“ der Choreografin Karen Schönemann und des Regisseurs Helge-Björn Meyer, jetzt zu sehen im Leipziger LOFFT.

Zunächst scheinen sie ihre Plätze zu suchen. Eine Akteurin ordnet beständig die Stühle neu an. Die Versuche, untereinander Kontakt aufzunehmen scheitern, bleiben in freundlicher Unverbindlichkeit, gehen ins Leere. Aber sie geben nicht auf. Aus den Schlaglichtern improvisierter Existenz fügt sich die Energie der Bewegung, entsteht der Tanz, aus den Fragmenten der Sprache steigt der Gesang auf. Gegensätze. Ein „Vaterunser“ in deutscher Sprache, ein Gebet aus der Liturgie des Orthodoxen Ritus in russischer Sprache. Kindheitserinnerungen, Abzählreime, die tragische Verwirrung in einem berührenden Brief aus russischer Ferne voller Sehnsucht nach kulturellen Versatzstücken heimatlicher Identifikation mit musikalischen Traditionen in Leipzig. Das könnte alles kitschig werden. Wird es aber nicht. Die Authentizität und die Bescheidenheit, der Mut zur Unvollkommenheit bewahren die Tänzerinnen und Tänzer davor.

Sie sind Laien was den Tanz als Profession angeht, aber sie sind Profis was den Tanz zwischen ihren Welten angeht. Es scheint, als hätten sie angeboten, wie sie tanzen wollen, was sie tanzen wollen, was sie können. Das hat die Choreografin angenommen, hat den Akteuren geholfen die individuelle Form zu finden und damit Wege zueinander. Jede und Jeder kann glänzen, kann mal aufdrehen, womöglich im vollen Übermut springen oder emotional abheben. Es gehört zu den Tugenden von Karen Schönemann, dass sie sicher zur Bewegung verführt hat, aber stets das Maß des Möglichen beachtet hat und jeder Art von konzeptioneller Überformung widerstanden hat. Da mag mancher Übergang holpern - das macht nichts, hier zählt der Weg hin zu einer solchen Aufführung, zu einer solchen Präsentation bewegender Erfahrungen. Ähnlich mag der Regisseur Helge-Björn Meyer gearbeitet haben, behutsam vor allem, keine falsch verstandene performative Knallshow, kein Seelenstrip mit wohlfeilen politischen oder sozialen Zuweisungen.

Menschen werden ins Licht gestellt, aber nicht ausgestellt. Die Bewegung, der Tanz, der Gesang sind verbindende Möglichkeiten sich auszudrücken, sich zu verständigen, sich zu zeigen. Die Musik ist eine wilde Mischung: Schostakowitsch darf nicht fehlen, Vyssotzkys „James Bond in Moskau“ auch nicht, der gefühlige, mehrstimmige Gesang des Herzensschlagers vom Zauber der Moskwa am Abend ebenso wenig wie „Vodka & Garlic“. Mit einem Wodka werden wir begrüßt. Einen solchen nimmt man gerne hinterher. Der Trinkspruch wird sich finden − auf jeden Fall ein sehr herzliches: Prost und Nastrovje für Tatjana Bleicher, Nadja Oppenländer, Olga Völk, Tatajana Werner, Vladimir Kabo, Vadim Zaslawski und dem ganzen Team der „Russendisko“, die ganz und gar nichts mit Herrn Kaminer zu tun hat.

 

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