„Sprachloch“ von Verena Brakonier

„Sprachloch“ von Verena Brakonier

Atmendes Stillleben

„Sprachloch – Duett für eine Tänzerin“ von Verena Brakonier auf Kampnagel

Die Residenz-Choreografin entwickelt einen minimalistischen Tanz, der - basierend auf ihrem Interesse an der hierarchischen Beziehung von Sprache und Bewegung - den Atem in Endlosschleifen und wiederkehrenden Rhythmen zwischen dem Bühnen- und Zuschauerraum zirkulieren lässt.

Hamburg, 31/03/2014

Von Jonas Leifert

Blinzelnd schaut eine Frau von der Bühne ins Publikum. Durch halb geöffnete Augenschlitze studiert sie die Zuschauer, beobachtet die Beobachtenden. Argwöhnisch blickt sie uns an, als wären wir verdächtig, oder zumindest einige unter uns. Die halbgeschlossenen Augen lassen ein Zurückschauen schwierig werden. Die Residenz-Choreografin Verena Brakonier gibt nicht viel preis von Ihrer Motivation, uns auszuspähen. Wir können nur spekulieren, was sie interessiert.

So schnell ist die Grundkonstellation des Abends auch schon etabliert. Eine Performance, die man einerseits als eine Choreografie des Atmens, aber eben auch als eine Choreografie der Blickachsen beschreiben könnte. Ein Duett zwischen einer Performerin auf der Bühne und einzelnen Akteuren aus dem Publikum.

Die Aufführung beginnt mit einer Bewegungsbeschreibung. Die Zuschauer hören die Stimme der Tänzerin, wie die Radioübertragung eines Fußballspiels. Es entwickeln sich Dynamiken im Sprachduktus, die Spannungen erzeugen, die Aufmerksamkeit auf einen kommenden Zeitpunkt hinlenken, von Enttäuschungen zeugen, aber eben auch von der großen Freude, wenn ein schnelles Ballspiel mit ästhetischer Qualität zum Tor führt. So wie das Ballspiel durch die verschiedenen Akteure auf dem Rasen durch den Radiokommentator innerhalb der Sprachgestaltung hervorgebracht wird, so hört das Publikum die Beschreibung von Bewegungen, bei welcher jedem Liebhaber der menschlichen Biomechanik das Herz aufgehen muss. Da wird die Wirbelsäule in doppelter S-Form gedreht, das Knie angezogen, Spiralen beschrieben, der Fuß abgesetzt, Muskeln angespannt, das Gewicht zwischen den Füßen gehalten, das linke Bein (endlich!) gelöst, der Kopf darf sitzen, 210 Knochen drehen, drehen, drehen.

Diese auditive Einleitung in die aktuelle Arbeit der in Hamburg lebenden Choreografin und Tänzerin Verena Brakonier schafft eine Brücke zu ihrem letzten Stück. Wer "Reigen, oder wie man auf den Hund kommt" gesehen hat, wird sich schnell an die Szene erinnern, in welcher Brakonier einen Stuhl über die Bühne trägt. Dabei versucht sie so genau wie möglich zu beschreiben, was ihr Körper und dessen Einzelteile tun. Die ausführliche Beschreibung einer Bewegungssequenz ist nun lediglich der Prolog für "Sprachloch – Duett für eine Tänzerin". Zusammen mit ihrer Dramaturgin Anja Winterhalter entwickelt Brakonier einen minimalistischen Tanz, der - basierend auf ihrem Interesse an der hierarchischen Beziehung von Sprache und Bewegung - den Atem in Endlosschleifen und wiederkehrenden Rhythmen zwischen dem Bühnen- und Zuschauerraum zirkulieren lässt. Im Verlauf des Abends wird nur noch mit einer minimalen Bewegungsbeschreibung gearbeitet, die gleichzeitig auch als Imperativ an das Publikum aufgefasst werden kann: Einatmen, Ausatmen.

Verena Brakonier positioniert sich auf der bestuhlten Tribüne, die den Zuschauern auf der Bühne gegenübergestellt ist. Sie schaut das Publikum an und leitet unsere Blicke zurück auf uns selbst. Sie setzt sich eine Minute lang auf einen der leeren Stühle, atmet in ein Handmikrophon, welches ihren Atem akustisch in den gesamten Bühnen und Zuschauerraum überträgt. Danach wechselt sie auf den nächsten Stuhl und spricht beim Atmen in ihr Mikrophon: „Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen“. Nach einer Minute wechselt sie auf den nächsten Stuhl und spricht unaufhörlich weiter. Ich versuche eine Differenz ausfindig zu machen, eine neue Bewegungsaufgabe zu erkennen. Dabei fällt mir auf, dass sich ihr Oberkörper beim Einatmen streckt und beim Ausatmen beugt. Ich bin mir unsicher, oder diese Bewegung neu ist, oder ob sie auch schon zuvor ausgeführt wurde.

Die Performance spielt mit verschiedenen Bewegungsaufgaben, die sich allesamt um das Ein- und Ausatmen drehen. Dabei ist das Publikum immerzu der Duettpartner in Brakoniers Atem-Solo. Immer wieder muss man sich als Zuschauer zu dem verhalten, was als unterschwellige Aufforderung zum Mitatmen auf der Bühne angeleitet wird. Jeder Zuschauer muss für sich selbst entscheiden, ob man sich auf die Spiegelung einlässt und den eigenen Atmen mit jenem auf der Bühne synchronisiert, oder sich einer Unisono-Atmung bewusst entzieht. Meist ist Brakonier bei ihren Atemübungen mit ihrem Blick im Publikum, dessen Tribüne immer wieder erleuchtet wird und sich für nur manchmal der Performance in der gewohnten Zuschauerdunkelheit entziehen kann. Damit wird eine Rahmung geschaffen, die den Zuschauer aktiv in das Bühnengeschehen mit einbezieht, ohne ihn jedoch unangenehm auszustellen. Wenn Brakonier zur Atmung im Wiener-Walzer-Takt ansetzt und den Oberkörper leicht nach rechts und links schwingt, kann sich im ersten Moment kaum jemand im Publikum dem Sog dieses Rhythmus' entziehen und für wenige Sekunden scheint die ganze Zuschauertribüne mitzuschwingen.

Ein Moment der Irritation entsteht, wenn Brakonier ihren Atem beschreibt und dabei langsam ihren Kopf nach hinten dreht. Dabei wendet sie sich einerseits langsam vom Publikum ab, aber auch von ihrem Handmikrophon und ihre Stimme erfüllt zum ersten Mal unterverstärkt den Raum. In diesem Moment, in welchem ich Stimme und Körper das erste Mal ohne technische Verstärkung als Einheit erlebe, entzieht die Performerin mir ihr Gesicht, das sich langsam nach hinten dehnt. Sie streckt ihren Oberkörper so weit, bis sie in halbstarrer Pose, quer über die Rückenlehne hängend ihren Atemfluss weiter beschreibt. Auf der Bühne sehe ich ein Tableau Vivant, ein atmendes Stillleben, Nature Morte: Ausatmen, einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen, einatmen...
 

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