„Nijinski“ von Marco Goecke. Tanz: Jan Casier und Mélanie Borel

„Nijinski“ von Marco Goecke. Tanz: Jan Casier und Mélanie Borel

Homoerotik und Wahnsinn

Marco Goeckes „Nijinski“ mit dem Ballett Zürich fasziniert das Publikum

Uraufgeführt von Gauthier Dance in Stuttgart, ist Goeckes „Nijinski“ jetzt in Zürich angekommen. Ein Work in Progress. Erstmals werden Chopins Klavierkonzerte dabei live gespielt. Eine Erfolgsgeschichte.

Zürich, 10/03/2019

Ein Mädchen kommt von einem Ball zurück, eine Rose in der Hand. Beglückt schläft die junge Frau auf einem Sessel ein. Im Traum erscheint ihr der „Geist der Rose“, will heißen: ihr neuer Verehrer. In hohem Bogen kommt dieser durch ein Fenster ins Zimmer geflogen, die beiden tanzen zusammen, dann schwebt der Jüngling durch ein zweites Fenster wieder davon. So der Inhalt von „Le Spectre de la Rose“, das von den Ballets Russes 1911 in Monte Carlo in der Choreografie von Michail Fokin uraufgeführt wurde. Es hieß damals, die Sprünge hätten ausgesehen, als könne der Tänzer in der Luft stehen bleiben. Sein Name: Vaslav Nijinski.

Wie anders die entsprechende Szene im „Nijinski“-Ballett von Marco Goecke, das am 9. März am Zürcher Opernhaus Premiere hatte. Eine Schweizer Erstaufführung. Es beginnt mit der Musik zu „Le Spectre de la Rose“: Nicht Carl Maria von Weber gibt den Ton an, sondern Frédéric Chopin. Jan Casier als Nijinski kommt nicht durchs Fenster geflogen, sondern erinnert an einen Zappelphilipp, der nie springen gelernt hat. Er nähert sich dem Sessel, in dem ein Mädchen von hinten zu sehen ist. Nervös fuchtelt der Tänzer mit den Armen, verbiegt den Körper, wackelt mit dem Kopf. Und dann...

Ja, dann geht es anders weiter als in der ursprünglichen Version von „Le Spectre de la Rose“. Choreograf Goecke nutzt die Szene, um im Raffverfahren die entscheidende Phase in Nijinkis Lebenslauf zu zeigen. Er, zum Geliebten des bekennend schwulen Impresarios Sergej Diaghilew (William Moore) geworden, trifft im erwähnten Sessel seine junge Verehrerin Romola de Pulszky (Mélanie Borel), verbindet sich mit ihr. Aus die Karriere! Diaghilew tobt, wirft Nijinski aus dem Ballett. Kurz darauf bricht des Tänzers Wahnsinn aus. Er zeichnet nur noch Kreise auf den Boden – Goeckes Ballett endet, ohne dass man Romola ein zweites Mal gesehen hätte.

In Wirklichkeit war der 1889 in Russland geborene Vaslav Nijinski, der bei den Ballets Russes zum Startänzer und Radikal-Choreografen avancierte, mit Romola ab 1914 lebenslang verheiratet. Er hatte auch zwei Töchter mit ihr. Seine Schizophrenie, im Keim schon lange vorhanden, brach für alle sichtbar 1919 aus, bei einem letzten Tanzauftritt vor Hotelgästen in Sankt Moritz. Es folgten Aufenthalte in der Psychiatrie, fragwürdige medizinische Behandlungen, Aufschwünge und neue Zusammenbrüche.

Erst 1950 starb Nijinski in London. Ob er eindeutig homo- oder heterosexuell war, ob er Diaghilews Leidenschaft erwiderte oder im Grunde verabscheute, bleibt bis heute umstritten.

Nicht so bei Goecke. Homoerotik ist neben Nijinskis wachsendem Wahnsinn das vorherrschende Thema. Als Ballettschüler in St. Petersburg in eindeutigen Szenen mit Freund Isajew (Yannick Bittencourt), später mit Diaghilew, zuletzt mit einem Arzt (Dominik Slavkovsky). Die Frauenfiguren wirken dagegen schemenhaft, obwohl sie eindrücklich lange Solo-Auftritte haben: Vaslavs Mutter (Irmina Kapaczynska), die Muse Terpsichore (Katja Wünsche), ein düsteres Wesen namens „Etwas“ (Elena Vostrotina).

So fremdartig und gewöhnungsbedürftig Goeckes Ballettstil anfangs wirkt: Bald nimmt er einen gefangen, fasziniert mehr und mehr. Nicht nur Nijinski, Diaghilew oder Romola – alle Figuren übernehmen des Choreografen nervöses Vokabular. Arme, Hände, Oberkörper und Kopf sind ständig in Bewegung: unkoordiniert, fast spastisch, abgehackt, oft mit Zittern verbunden. Das überspannt-spannungsvolle Innere wird sozusagen nach außen gekehrt. Beine und Füße dagegen bleiben ziemlich ruhig. Oft verweilen sie in den klassischen Ballett-Grundpositionen. Hohe und weite Sprünge, eine von Nijinskis Spezialitäten, sind ein No-go. In den Tanz mischen sich Schreie, Satzfragmente, Atemgeräusche.

Bewundernswert, wie nicht nur der fabelhafte Jan Casier oder William Moore, sondern auch die vielen andern Tänzerinnen und Tänzerinnen vom Ballett Zürich samt Junior Company (beide geleitet von Christian Spuck) sich Goeckes kunstvoll-künstlichen Stil angeeignet haben.

Goecke brachte sein knapp 90-minütiges Ballett 2016 mit dem freischaffenden Ensemble Gauthier Dance im Theaterhaus Stuttgart zur Uraufführung. Jetzt in Zürich hat der Choreograf sein Ballett noch weiter entwickelt, ein Work in Progress. Man bestaunt die unfassbar komplizierten Soli, die heftigen Männerszenen, getanzt meist mit nacktem Oberkörper. Komische Details fehlen auch nicht. Aufschlussreich sind die Abläufe im fiktiven Trainingssaal: Es beginnt mit klassischen Ballett-Übungen, die unvermittelt in Nijinski-Goeckes verwegene Schrittformen mutieren.

Die „Nijinski“-Auftritte von Gauthier Dance fanden und finden jeweils mit Musik vom Tonträger statt. Aus Spargründen. In Zürich dagegen spielt mit der Opernhaus-Philharmonie unter dem bulgarischen Gastdirigenten Pavel Baleff erstmals ein voluminöses Live-Orchester. Der Schweizer Pianist Adrian Oetiker spielt perlend-üppig beide Klavierkonzerte von Frédéric Chopin. Dazwischen erklingt Claude Debussys „L’Après-midi d’un Faune“. Typischerweise bei Goecke so umgestaltet, dass der Faun nicht nach einer Nymphe schmachtet, sondern nach einem männlichen Wesen.

Warum ausgerechnet die beiden Chopin-Klavierkonzerte? Er habe sich lange schwer getan, eine passende Musik-Collage zusammenzustellen, sagte Goecke bei einer Einführungs-Matinee im Zürcher Opernhaus (wo er wie üblich mit Sonnenbrille und seinem Dackel erschien). Dann sei er auf die Chopin-Klavierkonzerte gestoßen, die allein schon von der Länge her bestens ins choreografische Konzept passten. Er habe darin alle Stimmungen gefunden, die er sich für seine Choreografie erträumte. Der Chopin-Wohlklang bilde zudem einen guten Kontrast zur verstörenden Nijinski-Geschichte.

Auch die von Gauthier Dance übernommene Ausstattung (Michaela Springer) überzeugt. Die Bühne ist schwarz ausgeschlagen, bis zu der Szene, wo vier rot bekleidete Mädchen und Romola ins Bild kommen. Ein Knall – und nun schweben rote Rosenblätter von der Bühnendecke auf den Boden. Die einfachen Trikots der Tanzenden sind manchmal mit Versatzstücken der originalen Kostüme aufgepeppt: ein paar Rosenblätter an Vaslavs Handgelenken, der seinerzeit (1911) in „Le Spectre de la Rose“ von Kopf bis Fuß als Blume eingekleidet war. Man erkennt Petruschkas helle Kragen-Rosette, Mantel-Pelzbesatz und Hut von Diaghilew, wie wir sie von alten Fotos kennen. Dessen Schnurrbart bedeckt im “Nijinski“-Ballett nur die eine Gesichtshälfte - wer weiß, warum. Sieht jedenfalls erheiternd aus.

Das Zürcher Publikum scheint für Marco Goeckes eigenwilligen Stil zu schwärmen. Es kennt ihn von „Deer Vision“ und einer „Petruschka“-Version, die der Choreograf mit dem Ballett Zürich zur Uraufführung brachte. Der Applaus war nicht nur groß, sondern frenetisch.
 

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