„Jagen“ von Olga Labovkina. Tanz: Marine Henry

„Jagen“ von Olga Labovkina. Tanz: Marine Henry

Getanzter Alptraum

Tanzabend von Olga Labovkina auf der Studiobühne des Stadttheaters Gießen

Die dramaturgische Ursprungsidee für „Jagen“ war Arthur Millers „Die Hexenjagd“, geschrieben in der McCarthy-Ära, als in den USA die Hatz auf Kommunisten tobte. Labovkinas Version geht an die Grundsubstanz menschlicher Existenz.

Gießen, 01/12/2019

Und wieder ist es ein ganz besonderer Tanzabend am Stadttheater Gießen. Ballettdirektor Tarek Assam hat eine junge Choreografin aus Weißrussland gewonnen, mit der Tanzcompagnie ein Stück für die taT-Studiobühne zu erarbeiten. Die dramaturgische Ursprungsidee war Arthur Millers Drama „Die Hexenjagd“, geschrieben in der McCarthy-Ära, als in den USA die Hatz auf Kommunisten tobte. Was Olga Labovkina aus der literarischen Vorlage gemacht hat, das geht wirklich an die Grundsubstanz menschlicher Existenz.

Gemeinsam mit dem Ensemble untersucht Olga Labovkina den Moment, in dem sich Menschen unter Druck entscheiden müssen. Wie gehen Menschen miteinander um, wenn sie verfolgt werden, also in realen und psychischen Krisensituationen? Labovkina hat einen getanzten Alptraum daraus gemacht, in dem Angst und Furcht regieren. Die drei Tänzer (Jeremy Curnier, Floriado Komino, Sven Krautwurst) und drei Tänzerinnen (Caitlin-Rae Crook, Adriana Dornio, Marine Henry) bewegen sich entsprechend: sie sind wie getrieben, eher manipulierte Marionetten, kaum denkende oder verantwortlich handelnde Individuen.

Das ganze Ambiente ist auf diese Atmosphäre abgestimmt, bleibt im Bereich der Nichtfarben Grau und Weiß. Das Bühnenbild (Katharina Andes) ist zugleich eine Hausecke und eine begehbare Skulptur, das ein Eigenleben zu führen scheint. Eine Tür, die nur aufgeht, wenn sie will, Menschen nicht hereinlässt oder hinausstößt. Ein Fenster, das den Durchblick verweigert oder fragmentierte Körperteile ausspuckt.

Der Sound ist angelegt wie im Film. Er evoziert Stimmungen, die meist dunkel und bedrohlich sind, aber auch mit dem Klang einer Spieluhr in die Kindheit führt. Labovkina hat den Sound mit befreundeten Musikern (Dodoma) erarbeitet, hat die letzten Feinheiten von Gießen aus via Skype mit ihnen besprochen, wie sie in einem Gespräch zuvor erzählte.

Die Kostüme erinnern an Alltagskleidung mit historischen Anleihen, komplett in Beige-Tönen gehalten. Alles flattert, ist am Rücken geschlitzt, Verletzlichkeit symbolisierend, wie Andes im Vorgespräch sagte. Und dass die Lichtregie diese Atmosphäre unterstreicht, ist selbstverständlich. Man fühlt sich unweigerlich an den Film Noir erinnert oder an Psychodramen von Altmeister Hitchcock.

Die TänzerInnen agieren unglaublich intensiv. Sie biegen sich in die merkwürdigsten Körperpositionen, allein oder miteinander ringen sie um ihre Mitte, finden nur selten Halt und Standfestigkeit. Es gibt Szenen, da helfen sie einander, tragen und stützen sich, doch häufiger sind die Szenen des Ausstoßens und Hinterherjagens. Die Gesichter wandeln sich von wahnhafter Leere zu angstvollen Fratzen, von verhaltener Schüchternheit zu boshafter Dominanz.

Das ganze Spektrum an Emotionen wird von diesem engagierten Ensemble ausgebreitet. Staunenswert, was die Choreografin herausgeholt und in eine überraschende Bewegungssprache umgesetzt hat. Alles geschieht in hohem Tempo, getanzt wird voller Dynamik, von kraftvoll-aggressiv bis poetisch-sanft. Häufiger gibt es zwei bis drei Szenen nebeneinander, auf der eigentlich kleinen Bühne. Wie im echten Leben bekommt man nicht alles mit. Nur wenn die Gruppe gemeinsam tanzt, sich kurz in fast turnerischen Standbildern wiederfindet, dann gibt es so was wie eine Totale.

Nutzt Labovkina die Haus-Skulptur schon sehr intensiv, so tut sie dies mit der einzigen anderen Requisite auch: zwei übergroße, fast starre Filzmäntel, die Macht symbolisieren. Auch die Mäntel entwickeln (wie das Haus) ein Beinahe-Eigenleben, verschlucken Arme und Beine, machen die Akteure kopflos, fordern die Gegenwehr heraus.

Es ist ein beeindruckendes Tanzstück, das Zusehende fast benommen macht. Viele werden es mehr als einmal anschauen.
 

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