Guillaume Hulot, "OGAMI" (vorn: Keiko Oishi und Teele Ude)

"OGAMI" Guillaume Hulot. Tanz: Keiko Oishi und Teele Ude (vorne)

Emotionalität und Nüchternheit

Dreiteiliger Abend "Verklärte Nacht" mit Choreografien von Antoine Jully, Guillaume Hulot und Merce Cunningham am Oldenburgischen Staatstheater

Der neue Ballettabend spannt einen Bogen von größter Subjektivität und Emotionalität im musikalisch-tänzerischen Ausdruck und schafft damit einen gelungenen künstlerischen Entwurf.

Oldenburg, 21/02/2022
Der neue Ballettabend am Staatstheater Oldenburg spannt den Bogen von größter Subjektivität und Emotionalität im musikalisch-tänzerischen Ausdruck in Antoine Jullys choreografischer Adaption von Arnold Schönbergs sinfonischer Dichtung „Verklärte Nacht“, über filigranen Minimalismus in Guillaume Hulots „OGAMI“ bis hin zur choreografischen Nüchternheit eines Merce Cunningham. Der neue Ballettabend am Oldenburgischen Staatstheater überzeugt.

Hulot, der mit der Umkehrung das Wortes IMAGO den Begriff OGAMI prägt und sich spielerisch dem Metamorphose-Gedanken in der Insektenforschung nähert, bezieht sich gleichzeitig auf den ebenso in der Psychologie benutzten Begriff für den allerersten Eindruck, das Bild, das wir von einem Menschen haben und das unser Handeln prägt. Diesen philosophischen Hintergrund versucht der Choreograf, der einstmals Studienkollege von Antoine Jully an der Ballettschule der Pariser Oper war, in tänzerische Bilder zu übersetzen. In violett schimmernden Kostümen, die an Käferpanzer erinnern, entfaltet sich zu den Rokokovariationen von Tschaikowsky ein wechselvolles Spiel, eine Suche nach Positionierung im Raum und im Miteinander. Die langen, bis zu den Fingern gezogenen Ärmel lassen die oft filigranen Armbewegungen wie Insektenfühler wirken, das choreografische Spiel mit gespiegelten oder gedoppelten Bewegungsphrasen entfaltet einen eigenen Reiz. Insgesamt jedoch bleibt dieser „choreografische Spiegel“ trotz Bühnennebel und interessanter Lichtkonzeption zu blass, um wirklich über die Rampe zu kommen.

Das Herzstück – und zweifellos den Höhepunkt des Abends – stellt Antoine Jullys Neuinterpretation von Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ dar. Jully findet seine ganz eigene Sicht zu dieser – dem Gedicht und der Komposition – zu Grunde liegenden Frauenthematik von Liebe, Sehnsucht und Verlangen. Er widersteht der Versuchung einer choreografischen Nacherzählung dieses bekannten Gedichts von Richard Dehmel, dessen Sprache heute doch sehr pathetisch wirken kann: Eine schwangere Frau verliebt sich neu, findet ihren Traummann und wird von ihm „gerettet“.

Antoine Jully entwirft eine Choreografie für drei Paare, in dem er dem Protagonisten-Paar, das die Thematik in Andeutungen darstellt, noch zwei weitere Paare an die Seite stellt und so die verschiedensten Facetten der Liebe und Sehnsucht von idealer Harmonie bis hin zu reibungsvoll kontroversem oder von Zweifeln geplagtem Miteinander zum Ausdruck bringt. Dabei lässt er sich gekonnt auf die emotional tiefsinnige und mitreißende Musik des jungen Schönberg ein. Jully, einer der wenigen Choreografen, die sowohl zeitgenössische Elemente in ihre Ballettarbeit mit einbeziehen, als auch das kreative Potenzial der traditionellen Modern-Techniken nutzen – wie hier Elemente der Graham-Technik, die seiner Choreografie Kraft und dramatischen Ausdruck verleihen – gelingt ein großartiges Stück Tanzkunst.

Schönbergs spätromantische Musik, vom Oldenburger Staatsorchester unter der Leitung von Generalmusikdirektor Hendrik Vestmann mit großer Intensität gespielt, bereitet dem Tanz ein wunderbares klangliches Fundament, auf dem sich die Choreografie voll entfalten kann. Vielgestaltige Duette, Soli und kleinere Gruppensequenzen sind so ideenreich choreografiert und werden mit so viel Gefühl und Hingabe getanzt, dass die Atmosphäre im Staatstheater zu schweben beginnt. Eine gelungene Symbiose von Musik und Tanz treibt alle Beteiligten zu künstlerischen Höhen, ohne Gefahr, dabei plakativ zu werden. Hingebungsvoll und mit Passion tanzen Keiko Oishi mit Samory Flury, Teele Ude mit Seu Kim und Garance Vignes mit Vincent Tapia.
Den Kostümen – für den Tanz leicht überfrachtet – und von Oldenburgs Gewandmeisterin und Modespezialistin Etta Braukmann entworfen, hätte allerdings etwas weniger Glitter gut getan. Am Schluss wird die „Verklärung“ durch Bühnenschnee angedeutet, der auf das Schlussbild der drei tanzenden Paare wie in einer Schneekugel hinunter rieselt und die ganze Choreografie als ein modernes Märchen von der Liebe erscheinen lässt. Chapeau, Antoine Jully!

Wie ein „Cool down“ wirkt im Anschluss Merce Cunninghams Choreografie „How to pass, kick, fall and run“ von 1965, von Robert Swinston aus den USA in Oldenburg einstudiert. Ein weiteres Beispiel aus der Tanzmoderne für einen komplett unterschiedlichen künstlerischen Ansatz.
Als eine radikale Absage an die Tradition des klassischen Balletts und des Modern Dance präsentiert der amerikanische Choreograf in Zusammenarbeit mit seinem Partner John Cage Tanzformeln, ja Exercises zu einer von zwei Schauspielern live gesprochenen Textkulisse. Nüchternheit statt Emotion, Sprache satt Musik, Lücken, Reibung oder sogar Langeweile kontra jeglicher inhaltlichen Überfrachtung bringen den Zuschauer wieder auf den Boden der (tänzerischen) Tatsachen. Vor dem kahlen Bühnenraum ohne Aushänge tanzen die Tänzer*innen in Kostümen, die wie Trainingskleidung wirken: mit schwarzen Strumpfhosen und altmodisch wirkenden weißen Stulpen. Der Reiz dieser Produktion liegt im Konzept, denn die sich langsam steigernden Tanzsequenzen, von acht Tänzer*innen spielerisch dargeboten, treffen jeden Abend auf andere 15 Kurzgeschichten, die – so von John Cage konzipiert – jeweils von einem Zufallsgenerator kurz vor der Vorstellung ausgelost werden.
Kleine buddhistische Lehrgeschichten wechseln ab mit Begebenheiten aus John Cages Lehrzeit bei Arnold Schönberg und ganz profanen Geschichten aus Cages Leben. Dass die zwei Schönberg-Geschichten gerade für die Premiere ausgelost wurden und damit ein kurzes Licht auf die programmatische Konzeption werfen, dass der Schauspieler als letztes die Geschichte seiner Kollegin vom Anfang sprach und somit die Performance abgerundet wurde, war eine schöne Koinzidenz. Ein Geschenk des Zufalls an das Produktionsteam. Andere Vorstellungen werden andere Übereinstimmungen darbieten – vielleicht. Die Tänzer*innen fahren derweil unberührt von den Texten mit ihrem Bewegungsprogramm fort, dessen Timing und Übereinstimmung sie selber finden müssen.

Langer, dankbarer Applaus beendet einen interessanten Tanzabend. Die kluge Konzeption Antoine Jullys, einen Freund und Kollegen aus der zeitgenössischen Generation kombiniert mit seiner eigenen feinsinnig-gefühlvollen Choreografie zur „Verklärten Nacht“ zusammen mit dem Tanzerneuerer Merce Cunningham präsentiert zu haben, ist ein künstlerischer Wurf, über den sich Oldenburg nur freuen kann.

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