Zurückblicken, vorausschauen

Neue Publikation „Gegenwart choreografieren“ vom tanzhaus nrw

Zum Ende der Intendanz von Bettina Masuch hat das tanzhaus nrw ein Buch herausgegeben, das fragmentarisch wichtige gegenwärtige Fragestellungen an den Tanz aufwirft.

Düsseldorf, 19/05/2022

„Acht Jahre des Forschens an der Zukunft der Tanzkunst in unterschiedlichsten diskursiven Formen, des unermüdlichen Produzierens eines breiten Spektrums aktueller Tanzformen und des unerschrockenen Präsentierens zuweilen widerständiger, zuweilen querständiger Produktionen haben die Erwartung der Kunststiftung NRW übertroffen: Das tanzhaus nrw ist ein Gravitationszentrum der zeitgenössischen performativen Künste geworden.“ Diese Worte von Hans-Joachim Wagner, Fachbereichsleiter Musik, Theater und Tanz bei der Kunststiftung NRW in Düsseldorf, aus dem neuen Buch „Gegenwart choreografieren“ sind vielleicht das beste Beispiel dafür, welches Ziel das tanzhaus nrw in Düsseldorf mit dieser Publikation verfolgen: die Erfolge und erreichten Meilensteine, aber auch noch ausstehende Herausforderungen und wichtige Fragestellungen zu verstetigen, zu verbreiten und in einen überregionalen Kontext zu setzen.

Diesen Sommer endet die Intendanz von Bettina Masuch, die das tanzhaus nrw seit 2014 leitet und im Herbst an das Festspielhaus St. Pölten wechselt. Zeit zurückzublicken auf acht Jahre verschiedenster künstlerischer Formate, Festivals, Gesprächsreihen, Kooperation und v.a. natürlich auch wertvoller tanzpädagogischer Arbeit, die am Tanzhaus das wichtige zweite Standbein darstellt. In der gut 250-seitigen Publikation „Gegenwart choreografieren“ versucht das Tanzhaus, fragmentarisch einen Einblick in seine Arbeit zu gewähren und gleichzeitig allgemeingültig über zeitgenössische Diskurse der Tanzlandschaft zu diskutieren.

Aufgeteilt ist die Publikation in fünf Hauptkapitel mit den Titeln Anfangen, Weitergeben, Kontextualisieren, Fokussieren und Aufbrechen. Wie Bettina Masuch in einem kurzen Vorwort skizziert, ist es das Ziel, Grundrisse zu Themenschwerpunkten, Kooperationen, dem Netzwerk, der Vermittlungsarbeit und der politischen Verantwortung des tanzhaus nrw aus Perspektive der letzten acht Jahre darzustellen. In einer bunten Zusammenstellung von kurzen Statements, Essays, Gesprächen und Fotostrecken versammelt „Gegenwart choreografieren“ dafür maßgebende Künstler*innen, Dozent*innen, Theoretiker*innen und wichtige Wegbegleiter*innen des Hauses, um sie über ihre Erfahrungen, Haltungen und Wünsche reflektieren zu lassen.

So berichtet im Kapitel Anfangen beispielsweise die Choreografin Doris Uhlich in einem Essay über und ihre Arbeit am Aufbrechen von Körpernormen im Tanz, Notizen aus einem Disability-only-Lab am tanzhaus nrw reflektieren über Desiderate in der künstlerischen Tanzpraxis in Bezug auf Menschen mit Behinderungen, Panaibra Gabriel Canda und Zwoisy Mears-Clarke tauschen sich über ihre Arbeit an Identitätskonstruktionen und Rassismuskritik aus und fordern einen stärkeren, nicht-euro-zentristischen kulturellen Austausch. Besonders sticht hier Mears-Clarkes Aussage hervor: „Theater ist für mich ein Ort, an dem Segregation aktiv aufgehoben wird.“ Der zweite Teil Weitergeben beweist das diskursive, gemeinschaftsstiftende, medizinische und bildungspolitische Potenzial des Tanzunterrichts aus der Perspektive mehrerer Tanzpädagog*innen. Aufgrund ihrer Kürze können die Texte dabei stets nur an der Oberfläche kratzen. Dafür wird aber ein Grundriss verschiedener Fragestellungen aufgeworfen, die es in weiterführender Arbeit zu vertiefen und beantworten gilt.

Im dritten Kapitel mit dem Titel Kontextualisieren – und hier fragt man sich, warum diese Texte für Leser*innen, die mit dem Programm und der Arbeit des tanzhaus nrw nicht aus nächster Nähe vertraut sind, nicht an den Anfang des Buches gestellt wurden – werden schließlich maßgebende Säulen des Produktionshauses skizziert, von Themen und internationalen Produktionen über Projekte aus der Region, Arbeit mit jungen Menschen sowie im Verbund der internationalen Produktionshäuser bis hin zu den sogenannten Factory Artists – Künstler*innen, die am tanzhaus nrw zweijährig residierten und frei und planungssicher arbeiten konnten, worüber sie in Kapitel 4, Fokussieren, reflektieren.

Das letzte kurze Kapitel Aufbrechen endet mit dem Ausblick auf die neue Ausgabe des Formats Volume Upungehörte Stories, unbeachtetes Wissen, das sich mit in Vergessenheit geratenen diasporischen feministischen Kämpfen auseinandersetzen wird, und einem QR-Code, der auf ein zehnminütiges Video führt, in dem in sehr erhellenden Statements in Gebärdensprache für eine Etablierung der Verdolmetschung im Theater für Gehörlose sowie ihre stärkere Einbindung in Performances propagiert wird.

Trotz der vielleicht etwas eigenwilligen Reihenfolge der Kapitel, durch die erst allgemeinere Themenschwerpunkte vorgestellt werden, um dann rückwirkend spezifisch auf die Arbeit des tanzhaus nrw einzugehen, und der in manchen Fällen fehlenden Ausführlichkeit der Beiträge liefert „Gegenwart choreografieren“ einen wertvollen Status Quo aktueller Tanzpraxis und -diskurse. Das sowohl haptisch als auch optisch sehr ansprechende Buch ist eine niederschwellige und kurzweilige Lektüre, auch für eine breitere Leserschaft, die sehr gespannt darauf macht, wie es mit dem tanzhaus nrw unter der neuen Leiterin Ingrida Gerbutavičiūtė, aber auch allgemein in der deutschen und internationalen Tanzszene weitergeht.
 

"Gegenwart choreografieren" - tanzhaus nrw (Hrsg.), 2022
256 Seiten, 100 Abb., ISBN 978-3-89581-578-2
20€, erhältlich beim Alexander Verlag Berlin

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