Warum der klassische Tanz zeitlos wichtig ist

Ein Gespräch mit Mirjam Otten über ihr Online-Manual „Classical Tradition – Modern Society“

Ermöglicht durch das Kultursekretariat in Nordrhein-Westfalen konnte die 26-jährige Tänzerin aus der Not eine Tugend machen und die Zeit der Corona-Krise für eine sinnvolle Forschungsarbeit nutzen.

Mirjam Otten, geb. 1995, erhielt ihre professionelle Ausbildung in klassischem Ballett am Gymnasium Essen-Werden in Kooperation mit der Folkwang Universität der Künste in Essen sowie beim Royal Danish Ballet und an der Vaganova Academy of Russian Ballet in St. Petersburg. Heute arbeitet sie als freie Tänzerin und arbeitet für die internationale Tanzszene, zuletzt mit Johan Kobborg und Alina Cojocaru in Kobborgs Neufassung von „Romeo und Julia“. Mirjam Otten erwarb einen first-class BA Hons-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften und Geografie am King's College London und verbrachte das zweite Jahr ihres Studiums an der SciencesPo in Paris mit dem Studium der Sozialwissenschaften. Anschließend arbeitete sie drei Jahre lang am University College London zu Themen des sozialen Wandels. Diesen sozialwissenschaftlichen Hintergrund und ihre Forschungserfahrung nutzte sie, um der Kreativwirtschaft jetzt einen interessanten Online-Bericht zur Verfügung zu stellen: „Classical Tradition // Modern Society – a Handbook for Creators and Decision-Makers on Keeping Classical Ballet Relevant“. Wir haben mit ihr über die Hintergründe zu diesem Bericht gesprochen.

 

Mirjam Otten, Ihr Bericht beschäftigt sich damit, wie das klassische Tanzerbe weiterhin gesellschaftliche Relevanz erhalten kann und wie der klassische Tanz für Zuschauer*innen heute zugänglich gemacht werden kann. Was hat Sie zu dieser Arbeit veranlasst?

Mirjam Otten: Ich wollte diese Forschungsarbeit der Tanzwelt als Ressource zur Verfügung stellen. Die Grundlage dafür war meine dreijährige Tätigkeit als Forschungsassistentin an der ökonomischen Fakultät des University College London. Dort habe ich wissenschaftlich gearbeitet – u. a. über Interviews, Umfragen, Literaturrecherchen. Diese Methodik wollte ich für den Tanz nutzen und ihm zur Verfügung stellen.

Wann haben Sie damit begonnen?

Während der Corona-Krise, als alles stillstand, es aber relativ viele Möglichkeiten und Förderung für die Forschung gab, um dennoch künstlerisches Arbeiten zu ermöglichen. Beim Kultursekretariat in Nordrhein-Westfalen gibt es das Projekt „Tanzrecherche NRW“, das künstlerische Forschung im Bereich Tanz ermöglicht. Für mich war das eine willkommene Möglichkeit, meine akademische Tätigkeit und den Tanz miteinander in Verbindung zu bringen.

Wie hat Ihre bisherige künstlerische Arbeit diesen Bericht beeinflusst?

Wenn ich im Studio arbeite, ist mir zweierlei wichtig: zum einen die technische Exzellenz, das präzise und hochwertige Arbeiten, und zum anderen der Bezug zur Gesellschaft. Die Tradition des klassischen Balletts unterliegt ja einem Alterungsprozess, die Gesellschaft entwickelt sich weiter, sie hat neue Interessen und neue soziale Ansprüche. Wenn ich tänzerisch an einer Produktion arbeite, möchte ich beidem gerecht werden – ich möchte technisch und künstlerisch hochwertige Arbeit abliefern, die einen gesellschaftlichen Bezug hat. Damit wollte ich mich in dieser Forschungsarbeit auseinandersetzen.

Was haben Sie herausgefunden?

Es gibt kein Ergebnis im klassischen Sinne, eher eine ziemlich große Menge an Ergebnissen! Es ist eine Sammlung von Ansätzen, Ideen, praktischen Beispielen aus verschiedenen Bereichen und Ebenen, wo sich der klassische Tanz als Tradition mit der Gesellschaft auseinandersetzt. Dafür habe ich eine Reihe von Interviews geführt mit Tanzschaffenden, mit Direktor*innen, Choreograf*innen, und ich habe eine Literaturrecherche gemacht. Der Bericht teilt sich in drei große Sektionen: 1. Hintergrund und Einführung. 2. Die relevanten acht Elemente des Tanzes – die Natur des Balletts, der soziale Kontext, die Beziehungen, Programme und Produktionen, „good practice“, Charakteristika von Produktionen, Menschen, Charakteristika der Tanzindustrie. 3. Diskussion und Anhang. Im zweiten Sektor, der den Kern der Arbeit darstellt, geht es darum, was meine Gesprächspartner*innen sagen oder tun, um sich dem Publikum zu nähern. Da gibt es eine Menge von Ideen, mit denen Hürden überwunden wurden, um das Ballett oder eine neue Ballettproduktion der Gesellschaft nahezubringen.  

Haben nicht alle Produktionen heute mehr oder weniger einen direkten Bezug zum gesellschaftlichen Geschehen? Ganz egal, ob sie aus der freien Tanzszene stammen oder von den etablierten Kompanien?

Ja und nein. Ich sage nicht, dass es keinen Bezug zu heute gibt dabei. Im Gegenteil ist der Tanz generell sehr bemüht, diesen Bezug herzustellen. Mir ging es darum, die Vielfalt dieser Ansätze zu zeigen. Es gibt große Unterschiede nicht nur bei den Themen, sondern auch in der Form und in den Formaten bis hin zu partizipativen Elementen, bei denen das Publikum direkt einbezogen wird. Das fand ich alles sehr inspirierend. Mit diesem Bericht wollte ich es erstmalig zusammentragen und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen.

Können Sie ein paar Beispiele benennen?

Eines meiner ersten Interviews war mit Madeleine Onne, seit 2018 Künstlerische Direktorin des Finnischen Nationalballetts. Als Künstlerische Direktorin beim Royal Swedish Ballet (2002-2008), wo sie auch als Tänzerin ausgebildet wurde und lange Zeit als Principal tanzte, stand sie vor der Frage, wie sie eine das Publikum ansprechende Spielzeit gestalten könnte. Eine ihrer Produktionen war dann ein Ballett über Pippi Langstrumpf, mit dem sie die Familien anspricht, vor allem die Kinder. Für diese ist es anstrengend, stundenlang sitzen, sich benehmen und zuschauen zu müssen. Deshalb hat Onne im Opernhaus eine große Rutsche anbringen lassen, vom obersten Stockwerk bis ins Foyer. Außerdem wurden für den Vorstellungsbesuch „Pippi-Langstrumpf-Regeln“ aufgestellt, eine davon lautete: „Jeder muss in der Pause einmal rutschen“. Oder „Man darf zwischendurch laut lachen und klatschen“. Oder „Man darf dazwischenreden.“ So mussten Eltern ihre Kinder nicht ständig gängeln, und alle hatten eine positive Erfahrung.

Das war jetzt aber keine aktuelle Produktion? Ich habe davon nicht gehört oder gelesen …

Nein, das Ganze liegt schon einige Jahre zurück. Mir war das auch neu, aber es ist immer noch ein gutes Beispiel. Es hat damit zu tun, dass es nicht nur darum geht, was man auf der Bühne macht, sondern auch darum, was man drum herum veranstaltet. Mit der Frage: Wie können wir die Erfahrung so gestalten, dass die Menschen so positive Eindrücke mitnehmen, dass sie wiederkommen wollen. Wie können wir auf sie zugehen und nicht nur hohe Kunst auf der Bühne präsentieren? Es zeigte sich bei dieser Recherche auch sehr deutlich, dass der klassische Tanz und die klassische Choreografie selbst einen Anspruch an Erneuerung und Erweiterung in sich tragen. Das liegt am Streben nach Exzellenz und Weiterentwicklung. Der menschliche Körper und die tänzerische Technik entwickeln sich ja ständig weiter. Jede*r Künstler*in hat in sich einen Anspruch zu wachsen, technisch wie künstlerisch, er*sie möchte in einer Rolle jedes Mal, wenn er*sie sie zeigt, ein bisschen weitergehen und die Ansprüche höherschrauben. Das ist ein ganz natürlicher Erneuerungs- und Entwicklungsprozess, der selbst dazu beiträgt, dass der Tanz sozial relevant und interessant bleibt.

Das gilt sicher für jede Bühnenkunst – sie ist immer einzigartig und lebt immer nur in dem Moment, in dem sie gezeigt wird. Sie ist als solche nicht wiederholbar. Die Frage ist aber doch: Was bewegt den*die Zuschauer*in, in die Vorstellung zu gehen?

Genau. Und jede*r bringt sein*ihr Erleben vom Tag mit, auch die Vergangenheit, die Erinnerungen. Das beeinflusst, wie man das Geschehen auf der Bühne wahrnimmt, ob es uns bewegt und wie. Der britische Choreograf Andrew McNicol, mit dem ich auch gesprochen habe, hat in den USA in Philadelphia einmal ein abstraktes Stück entwickelt, es gab keine richtige Geschichte. Er arbeitete an einem Pas de Deux für zwei Männer, einer war Schwarz, einer weiß. Ein paar Tage vor der Vorstellung gab es in der Stadt eine Schießerei: Ein weißer Polizist erschoss einen Schwarzen Bürger. McNicol sagte, es habe ihn ganz stark beeinflusst, wie die Menschen darauf reagiert haben – sowohl im Studio bei der Kreation als auch das Publikum im Saal bei der Aufführung. Es sind solche Geschehnisse, die mitentscheiden, wie wir etwas wahrnehmen, und auch, wie der Tanz gesellschaftliche Vorgänge aufgreifen kann.

Mit wem haben Sie noch gesprochen?

Mit Katy Sinnadurai Bern, die früher für das Staatsballett in München getanzt hat und heute Direktorin ihrer eigenen Kompanie in Wales ist, dem Brecon Festival Ballet. Sie arbeitet stark partizipativ. Einmal im Jahr zeigt sie ihre Version des „Nussknacker“, darin sind 15 oder 20 professionelle Tänzer*innen und viele weitere Darsteller*innen aus dem Dorf, wo das Stück gezeigt wird. Außerdem sprach ich mit Richard Bermange, dem Direktor der Jugendkompanie des English National Ballet; mit Crystal Costa, einer Kanadierin aus Vancouver, die in London und Hongkong sowie als Erste Solistin beim ENB getanzt hat. Jetzt arbeitet sie als Lehrerin und unterrichtet viel in Kanada. Außerdem sprach ich mit Dominic Antonucci, dem stellvertretenden Direktor des Birmingham Royal Ballet.

Wie kam die Auswahl zustande?

Über meine eigenen Kontakte und über die Antworten, die ich auf meine Anfrage für diese Forschungsarbeit bekam. Diese sieben Künstler*innen haben sich bei mir gemeldet und waren bereit, mit mir zu sprechen.

Warum sind keine deutschen Tanzschaffenden dabei?

Das war eine Vorgabe der Förderung des Kultursekretariats, die ein Auslands-Stipendium vorsah.

Welche Bedeutung hat der klassische Tanz für Sie persönlich?

Eine große! Ich bin im klassischen Tanz groß geworden, er hat für mich bis heute eine zentrale Bedeutung. Im klassischen Tanz fühle ich mich bewegungstechnisch zuhause. Ich schätze diese absolute Hingabe an die technische Perfektion. Darin finde und sehe ich viel Freiheit, weil ich mich abgeben kann an die Bewegungsregeln und mich ganz dem emotionalen Ausdruck widmen kann. Die klassische Technik stellt mir meinen Körper als Instrument zur Verfügung, mit dem ich eine starke Ausdruckskraft erreiche. Aber ich sehe darin auch eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Der Tanz ist – wie jede Kunst – eine starke Kraft, über die ich das gesellschaftliche Geschehen reflektieren kann, menschliche Gefühle, Beziehungen, meine Rolle als Person in dieser Gesellschaft. Das geht sowohl beim Zuschauen wie auch beim Tanzen selbst. Ich muss dafür nicht unbedingt Spitzenschuhe anziehen, aber ich schätze die klassische technische Basis.

Haben Ihnen das auch Ihre Gesprächspartner*innen bestätigt?

Ja, die Frage „Warum brauchen wir den klassischen Tanz heute noch, wenn wir doch so viel modernes Ballett machen?“ war regelmäßig Thema bei meiner Recherche. Und gerade die Choreograf*innen, mit denen ich gesprochen habe, sagten, der klassische Tanz habe einen unglaublichen Reichtum an Bewegungsvokabular, er sei eine perfekte weiße Leinwand, um Tanz zu kreieren, er habe so viel zu bieten. Dominic Antonucci sagte, es sei wie beim Gitarrespielen. Wenn man nur Rock-Gitarre gelernt hat, kann man nur das spielen. Wenn man klassische Konzertgitarre gelernt hat, kann man alles spielen. So nehme ich es auch als Tänzerin wahr. Und ich finde, das ist ein starkes Argument für den klassischen Tanz und dafür, dass wir diese Tradition erhalten.

 

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