Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2022: Aktion Tanz, Reinhild Hoffmann, Marco Goecke, Christoph Winkler

Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2022: Aktion Tanz, Reinhild Hoffmann, Marco Goecke, Christoph Winkler

Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2022

Ein Programm für Marco Goecke, Christoph Winkler, Reinhild Hoffmann und Aktion Tanz

Eindrücke zur Tanzgala im Essener Aalto-Theater und als Stream für die Tanzwelt am Bildschirm

Essen, 18/10/2022

Echt Pech, wenn bei einem prominenten Event wie hier die bewährte Moderatorin plötzlich ausfällt. Doch gegen eine Corona-Infektion und deren individuell unberechenbare Dauer ist derzeit niemand gewappnet. Im vergangenen Jahr wusste Siham El-Maimouni mit ihrer entwaffnenden Herzlichkeit und äußerst kundiger Bogenführung zwischen den obligaten, digitalen Einspielern zur Vorstellung von Person und Funktion der Preisträger, den Redner*innen, ausgezeichneten Persönlichkeiten und ausgesuchten Livebeiträgen für mehr als nur gute Laune und heitere Stimmung zu sorgen.

Nun wurde diese Kür zur Pflicht für Michael Freundt, seit 2006 Geschäftsführer des Dachverband Tanz Deutschland. Er gab sein Bestes, um jedem Beitrag seinen gebührenden Platz im über zweistündigen Programm zuzuweisen – vom herzlichen Grußwort einer zugeschalteten Claudia Roth in ihrer Funktion als Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien bis hin zu den vier vorbereiteten Choreografien. Die Komponente spontane Lockerheit überließ er meist anderen, was sich letztlich insgesamt im reibungslosen Ablauf (mit vielleicht etwas zu langen Dunkelpausen für das Publikum am Bildschirm) gut zu einem runden Beisammensein fügte. Eine familiäre Stimmung manifestierte sich vollends, als sowohl die beiden Preisträger Marco Goecke und Christoph Winkler als auch zuvor die 78-jährige Reinhild Hoffmann, die wohlverdient einen Ehrenpreis für ihr Lebenswerk erhielt, bei ihren Danksagungen ihrer jeweiligen Müttern gedachten. Das war hundertprozentig nicht vorab abgesprochen – die Dotierung der drei Preise mit jeweils 10.000 Euro hingegen schon.

Wie alljährlich Mitte Oktober – den 14.10.2023 darf man sich gleich mal vormerken – wurde der Deutsche Tanzpreis 2022 wieder im Rahmen einer feierlichen Tanz-Gala verliehen. Es handelt sich um die höchste Auszeichnung, die im Tanz in Deutschland zu vergeben ist – in diesem Jahr bereits zum 38. Mal, wobei der Hauptpreis erstmals seit der Gründung 1983 gleich zwei herausragenden Tanzkünstlern zugesprochen wurde. Wie stets war das Aalto-Theater Essen Gastgeberhaus. Leider ohne künstlerische Beteiligung der von Ben Van Cauwenbergh dort geleiteten Kompanie – quasi ein Heimspiel, das man sich durchaus hätte vorstellen können angesichts doch recht viel filmischem und gesprochenem Programm.

Dem wiederholt betonten „Fokus Tanz in seiner Bandbreite zwischen freier Szene, Jugendarbeit und fest an einem großen Haus verankerten Ballett“, dem die Auswahl der Preisträger 2022 mit Marco Goecke und Christoph Winkler sowie dem Verein Aktion Tanz, dessen „besonderes Engagement in der Tanzvermittlung“ mit 5.000 Euro gewürdigt wurde, ja bestens entsprechen, hätte ein Funken Essener Ensemblepower durchaus gutgetan.

Warum scheute man davor zurück, Ausschnitte von Van Cauwenbergh mit einzubinden – beispielsweise aus seiner „Tanzhommage an Queen“ oder eine Preview aus seiner aktuellen Klassiker-Premiere „Giselle“? Letzteres ein Werk, das Stadt- und Staatstheater während der laufenden Spielzeit in einer Wahnsinnsdichte aus alten und brandneuen Produktionen beschäftigt. Das wäre eine Chance zur Zeichensetzung dafür gewesen, dass das, was Künstler*innen auf die Bühne bringen sich immer auf die eine oder andere Weise mit Vergangenem, Gegenwärtigem oder mit der Zukunft beschäftigt.

Der Kontrast zu dem frappanten Stück, dass man Christoph Winkler als Rausschmeißer hatte mitbringen lassen, wäre vermutlich gigantisch gewesen. Noch nicht offiziell uraufgeführt, bot seine Performance „Coming Together“ gleichzeitig sehr viel und vor allem sich stetig steigernde Intensität auf: Videoprojektionen flackerten im Hintergrund, das hingebungsvoll nervig live aufspielende Zafraan Ensemble trieb die sieben Tänzerinnen und Tänzer unterschiedlichster Nationalitäten an bis hin zum finalen Bang und Howard Katz Fireheart machte als Stimmakrobat seinem Namen alle Ehre, indem er zunehmend aggressiv-verbissenen seinem Mikrofon die immer selben Floskeln anvertraute. Bloß kam leider unterm Strich von all den guten Absichten tatsächlich nur wenig wirklich über die Rampe – ausgenommen der inhaltlich begründete „Aufruhr“ in Stimme und Körpern der Interpreten.
 

Der Tanzfilm „We Live In A Strange World“ von Christin Schmidt zu selbstgesprochenen Texten von Greta Thunberg schnitt dagegen in seiner Wirkung um Meilen nachdrücklicher ab. Er erfüllte, was sich die Organisatoren zur beispielhaften Präsentation der Erfolge und Ziele des Vereins Aktion Tanz erhofft hatten: „Eindrucksvoll zu zeigen, wie der zeitgenössische Tanz seine Wirkkraft in Bildung und Gesellschaft entfalten kann. Tanz als kreative Ausdrucksform, als politische Kraft, als bewegtes Forschungsinstrument für gesellschaftlich relevante Fragen, als Bildungsprogramm und als Kunstform, die Verbindungen zwischen Menschen und der Welt schafft.“ Hier waren es ausnahmslos die jungen Mover, die bis zum Hals im Wasser oder vor zerstörter Stadt- und Landstruktur uns als Publikum direkt mit ihren Blicken und deutlich verständlichen Gesten aufrüttelten. Schade nur, dass über den Hintergrund und die Realisierung dieser wenigen thematisch höchst aufgeladenen Minuten über den Abspann hinaus kein weiteres Wort verloren wurde.

Marco Goecke wiederum lieferte, was zu erwarten war: Tänzer*innen, wie sie besser nicht sein könnten, und aus Licht und Schatten gemeißelte Minidramen. Physis pur – und dazu unter der Haut der Tänzer seelische Bewegtheit ohne Ende. Den Auftakt zur Eröffnung der Tanz-Gala machte Lilit Hakobyan vom Staatsballett Hannover mit dem Solo „Tué“ zu Songs von Barbara. Ein Auftritt, dem plötzlich die Musik abhandenkommt, niemals aber die Spannung. Eine ebensolche und doch anders geartete erschaffen aus dem Nichts auch ihre beiden Staatsballett-Kollegen Rosario Guerra und Louis Steinmetz. Ihr Goecke-Stück trägt den Titel „Midnight Raga“. Zu Musik von Ravi Shankar entfaltet es sich zuerst solistisch und weitet sich dann zum famosen Duett. Der Inhalt ist eigentlich egal, denn Goeckes flirrende, kubistisch zerlegte Sprache ist natürlich universell. Dennoch erzählen die Tänzer mit ihren bisweilen wie getriebenen Bewegungen jedem wohl ein klein bisschen etwas anderes. Bei aller generellen Ähnlichkeit seiner Stücke zeichnet genau das die subtile Qualität von Goeckes Nuanciertheit aus.

Er habe sich entschieden, bis zur Verleihung des Preises für sein Lebenswerk zu bleiben, um dann auch – wie Reinhild Hoffmann – durch seine Werke zu tanzen. Beherzter lässt sich kaum ausdrücken, was Hoffmanns eigens für die Gala kreierter Auftritt so herausragend machte. Die bis heute aufgeschlossene und rüstige Pionierin des deutschen Tanztheaters und Zeitgenossin von Pina Bausch und Susanne Linke ließ es sich nicht nehmen, selbst noch einmal ins Rampenlicht zu treten. Vor sich eine Bahn mit Requisiten aus ihren früheren Arbeiten. Diese wiederum konnte man ausschnittsweise über einen Bildschirm mitverfolgen. Ein anerkennendes Bravo an die Vertreterin einer epochemachenden Tanzgeneration, die noch wusste, wie man Danksagungen und Rückblicke klug in Szene setzt. Authentisch, schlicht und beneidenswert klar. Vorbildlich für uns alle!
 

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