„Romeo und Julia“ von John Neumeier. Tanz: Azul Ardizzone, Louis Musin

„Romeo und Julia“ von John Neumeier. Tanz: Azul Ardizzone, Louis Musin

Ein Triumph der Jugend

John Neumeier eröffnet die 48. Hamburger Ballett-Tage mit „Romeo und Julia“

Ein 52 Jahre alter Klassiker, aktueller und frischer als je zuvor. Das liegt vor allem an der erst 15-jährigen Julia und ihrem nicht minder blutjungen Romeo. Das Wagnis gelang – der Jubel in der Staatsoper war immens.

Hamburg, 13/06/2023

Schon 1971 hatte John Neumeier seine Version des Shakespeare-Klassikers gegen den Strich gebürstet. Er wollte etwas anderes machen als die Choreografen vor ihm. Keine der üblichen Lovestorys. Etwas Neues. Rebellisches. Junges. Etwas, das sich abhob von John Crankos Fassung, in der Neumeier selbst in den 1960er Jahren in Stuttgart den Grafen Paris getanzt hatte. Etwas, das zurückkehrt zu den Wurzeln dessen, was Shakespeare selbst in diesem Stück angelegt hat: die Jugend. Die Liebe. Sturm und Drang. Ungeduld. Überschwang. Vermessenheit. Mut. Verrücktheit. Spontaneität. Draufgängertum. Aber auch Zartheit, Verletzlichkeit, Anmut, Klarheit, Unbestechlichkeit. Diese Koste-es-was-es-wolle-Mentalität. Alles oder nichts. Vielleicht wirkt gerade deshalb diese nunmehr 52 Jahre alte Choreografie in der 188. Vorstellung seit der Hamburg-Premiere am 6. Januar 1974 so neu, so modern, so zeitgemäß. Weil sie die Jugend spiegelt, wie sie immer war, ist und sein wird. Weil sich die Jungen von heute darin wiederfinden können, und ebenso die Alten in der Erinnerung an die eigenen Erlebnisse. Weil sie Aspekte des Jungseins zeigt, die wir alle kennen. Die wir durchlebt, durchliebt und durchlitten haben. Wenngleich nicht mit dem tragischen tödlichen Ende des Paares aus Verona.

Schon die Vermessenheit, Julia gleich zu Beginn des Stückes im Badezimmer zu zeigen, ist Programm: mit nassen Haaren, nur mit einem Handtuch umwickelt, mit den Cousinen rumalbernd, die hochfahrende Mutter mit ihren gestelzten Gesten nachäffend – grandios! Neumeier stellt Julia als junges, unbekümmertes, aber in ihrer Familie in ihrem So-Sein unverstandenes Mädchen in den Mittelpunkt seiner Fassung: ihre Bockigkeit, ihr Anderssein, ihre Rebellion gegen das Althergebrachte, gegen die Mutter vor allem (vom Vater fühlt sie sich eher beschützt und dennoch verraten, weil er sie an den Grafen Paris zwangsverheiraten will), gegen die fast höfischen Zwänge im Italien der Renaissance. Julia will ihrer Intuition folgen, ihrem Gefühl. „Geh, wohin Dein Herz Dich trägt“ – das hätte sie sich selbst ins Stammbuch geschrieben. Und das tut sie, nachdem sie überraschend Romeo begegnet ist, der zuvor in schwärmerischer Verehrung für Julias Cousine Rosalinde entbrannt ist. Denn schon in dieser ersten zufälligen Begegnung auf dem Marktplatz von Verona fühlt sie sich diesem jungen Mann, der ihr unvoreingenommen und heiter gegenübertritt, in einer Seelenverwandtschaft verbunden. Romeo wiederum ist gebannt von Julias Direktheit, ihrem ebenso unschuldigen wie neugierig-kecken Blick. Und so ist das ganze Stück geprägt von diesem jugendlichen Ungestüm, der Impulsivität und Unbedingtheit im Willen und Wollen, die man vermutlich nur in der Jugend so empfinden kann. Genau das ist auch das Pfund, mit dem Neumeiers Version wuchern kann, warum sie im besten Sinne zeitlos ist.

Im Rahmen der jetzigen Ballett-Tage anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Hamburger Ballettdirektors und -Intendanten war diese Fassung nur ein einziges Mal zu sehen – zur Eröffnung. Weitere Vorstellungen folgen in der nächsten Spielzeit, die zugleich dann auch Neumeiers wirklich letzte sein soll. Der eigentliche Auftakt hatte jedoch schon zwei Tage vorher stattgefunden – mit einer öffentlichen Preview am 9. Juni. Zu dieser Generalprobe waren auch 230 ehemalige Tänzer*innen geladen, die sich zu Beginn dieser Jubiläumsspielzeit in Hamburg eingefunden hatten. Sie waren auch Gäste beim Senatsempfang, den der Hamburger Erste Bürgermeister Peter Tschentscher am 10. Juni im ehrwürdigen Festsaal des Hamburger Rathauses zu Ehren John Neumeiers gab, der auch Ehrenbürger der Hansestadt ist – eine seltene Auszeichnung, die nur wenigen zuteil wird.

Anlässlich dieser Preview sagte der vom Jubel seiner Alumni sichtlich bewegte Ballett-Intendant, es sei nur richtig, diese Ballett-Tage mit dem zu beginnen, was für Tänzer*innen doch am wichtigsten sei: mit einer Probe. Denn: „Der glücklichste Tänzer ist ein müder Tänzer...“ Einer, der alles gegeben hat. Er sei öfter gefragt worden, sagte Neumeier im Rahmen seiner Rede bei diesem Empfang, wie er diese 50 Jahre geschafft habe: „How did you do that?“ Er habe darauf keine Antwort. Es sei schwer zu fühlen, was diese 50 Jahre waren: 5.403 Vorstellungen seit dem ersten Tag der Spielzeit 1973, 1.105 davon im Rahmen von Tourneen auf fünf Kontinenten in 31 Ländern und 131 Städten…  Und so sei es weniger die Zeit im Gesamten, sondern vielmehr das Ja-Sagen zu jedem neuen Tag, der im Ballettzentrum mit dem Training beginnt: „Es ist nicht wichtig, welche Ballette ich kreiere, sondern was wir zusammen erschaffen, aus unserem Ensemble heraus, das ist der kreative Geist, das interessiert mich. Nur dann können wir uns zeigen und uns als Künstler ständig weiterentwickeln. Ich habe dafür gesorgt, dass diese Tänzer arbeiten konnten. Denn nur wenn du tanzt, weißt du, dass du ein Tänzer bist.“ Und deshalb laute die Antwort auf die Frage, wie er diese 50 Jahre geschafft hatte: „I did it my way.“

Gestartet ist Neumeier mit zwei Ballettmeistern und einer Halbtagsstelle für das Sekretariat in kargen Ballettsälen unter heute kaum noch vorstellbaren Bedingungen. Seither sind 90 neue Planstellen entstanden. All das sei nicht von selbst gegangen, betonte Neumeier. Er sei eine der meistgehassten Persönlichkeiten der Hansestadt gewesen, als er 1973 von August Everding als Ballettdirektor geholt wurde. Die Hälfte des Ensembles hat er damals entlassen und mit neuen, eigenen Leuten besetzt. Ob er wirklich bleiben würde, wusste er damals oft nicht. Aber er ließ sich auch nicht so einfach kleinkriegen. Und so rief er etwas ins Leben, was zu einem der Erfolgsmodells des Hamburg Ballett wurde: die Ballett-Werkstatt, eine „lecture of demonstration“, damit das Publikum verstünde, was ihm wichtig ist, worauf es ihm ankommt. „Mythos und Schweiß“ hieß das Motto damals, am 6. September 1973. Skepsis schlug ihm entgegen, die typische hanseatische Kühle. Und dann, mitten im Erklären, vergaß er plötzlich, was er hatte sagen wollen – und gestand das mit dem ihm eigenen Englisch-Deutsch-Kauderwelsch frank und frei ein: „Ich habe vergessen, was ich gerade sagen wollte...“ Das Publikum applaudierte spontan, das Eis war gebrochen. Denn nichts schätzen Hamburger*innen mehr als Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Geradlinigkeit, Fleiß, Engagement. Neumeier: „Hamburg, das ist eine Kaufmannsstadt. Motto: Von nichts kommt nichts. Man muss etwas dafür tun.“ Und so habe er in all den nachfolgenden Jahren, wo er nicht selten kurz davor war, alles hinzuschmeißen und zu gehen, dennoch gekämpft und gestritten für das, was ihm immer am Herzen lag: seine Kompanie, seine Arbeit, die schon 1976 gegründete eigene Schule, das in der Welt wohl einzigartige Ballettzentrum mit seinem Internat für den Nachwuchs aus aller Welt, das Bundesjugendballett. All das konnte letztlich nur mithilfe des großzügigen Sponsorings der hanseatischen „Pfeffersäcke“ entstehen. Es war der Beginn nicht nur einer wunderbaren Freundschaft, sondern einer beispiellosen Liebesgeschichte zwischen der Hansestadt und dem Tanz, die heute den internationalen Ruhm des Hamburg Ballett begründet. Es gibt wohl keinen besseren Kulturbotschafter für die Großstadt an Elbe und Alster als genau dieses einzigartige Ensemble.

Zurück zu „Romeo und Julia“. Und zu einer der Überraschungen, für die Neumeier immer wieder gut ist. Bereits die sporadisch geäußerten Vorankündigungen für die Besetzung ließen ahnen, dass die Wiederaufnahme des Shakespeare-Dramas speziell werden würde: Niemand aus der Riege der Solist*innen oder gar der Erste*n Solist*innen werde in den großen Rollen dabei sein, hieß es, es gäbe ein komplett neues, ganz junges Cast. Erst spät drang die Kunde aus dem Ballettzentrum, was das konkret bedeuten sollte, und sie ließ so manchen ungläubig staunen: die 15-jährige Azul Ardizzone aus der 6. Klasse der Ballettschule war für den anspruchsvollen Part der Julia vorgesehen, der 21-jährige, noch weitgehend unbekannte Gruppentänzer Louis Musin als Romeo. Auch die zweite Besetzung rekrutiert sich aus jungen Tänzer*innen des Corps de Ballet (Ana Torrequebrada und Emiliano Torres), wird aber erst in der nächsten Spielzeit zu sehen sein.

Auf die Idee gekommen sei er, so erzählte Neumeier im Rahmen der Premierenfeier, vor einem Jahr in einer der Vorstellungen von „Dornröschen“. Dort gibt es einen komplizierten Rosen-Reigen, bei dem auch viele Schüler*innen mitmachen. Damals sei ihm Azul Ardizzone aufgefallen, er habe die Augen nicht von ihr lassen können. Und da ihm schon lange klar war, dass er die Wiederaufnahme von „Romeo und Julia“ mit jungen Tänzer*innen besetzen wollte, besprach er sich mit Gigi Hyatt, der pädagogischen Leiterin und Stellvertretenden Direktorin der Ballettschule, ob man es wagen könnte, Azul als Julia zu besetzen. Gigi Hyatt, die diese Rolle vor Jahren selbst getanzt hatte, gab grünes Licht: Einen Versuch könnte man schon wagen. Und so begann Neumeier zusammen mit seinen Ballettmeister*innen, mit dieser hochbegabten Schülerin zu arbeiten. Sie hat tatsächlich alles, was diese Julia braucht: Unbekümmertheit, Naivität, Frische, Anmut, Unschuld, Liebreiz, aber auch eine Ahnung von der Tragik des Lebens im Herzen, gepaart mit einer tiefen inneren Bescheidenheit und – unverzichtbar – einer blitzsauberen Technik (deutlich erkennbar: der Einfluss von Anna Polikarpova als Lehrerin).

Und dennoch war die Skepsis groß: Eine 15-Jährige für diese anspruchsvolle Partie? Würde das gut gehen? Die Messlatte aus der Vergangenheit lag schließlich sehr hoch. Schon Marianne Kruuse, mit der Neumeier sein Werk kreiert hatte, war als Julia kaum zu übertreffen mit ihrer hohen Musikalität, Präzision und Natürlichkeit. Später kamen weitere große Namen dazu, die über Jahre und Jahrzehnte hinweg das Hamburg Ballett prägten: Gigi Hyatt, Anna Polikarpova, Silvia Azzoni, Heather Jurgensen, Hélène Bouchet, Alina Cojocaru, um nur die wichtigsten zu nennen. Eine große Hypothek und eine nicht minder große Herausforderung also für ein so junges Mädchen.

Das Wagnis hat sich gelohnt: Azul Ardizzone, gebürtig am 18. Juni 2007 in Esperanza (auf Deutsch: Hoffnung!) in Argentinien, ausgebildet am Instituto Superior de Arte del Teatro Colón in Santo Tomé sowie an der Ballettschule des Hamburg Ballett, wird den an sie gestellten Ansprüchen aufs Feinste gerecht. Sie wirft sich mit so viel Verve und Begeisterung in diese Rolle, dass die Funken stieben. Sie ist keck und unsicher, albern und verzweifelt, ungestüm und vorsichtig – wie es Jugendliche ihres Alters nun mal sind. Vor allem aber ist sie mit jeder Faser ihres Seins hingegeben. An den Tanz, an die Rolle. Sie verkörpert diese Julia nicht nur, sie ist sie, sie lebt sie bis in ihr Innerstes und kehrt dieses bar jeder Furcht nach außen. Genau das, genau diese Qualität braucht dieses Werk, braucht im Grunde genommen jede der Kreationen Neumeiers. Denn gerade in dieser schrankenlosen Offenheit, in dieser Selbstentäußerung im Tanz, in dieser kompletten, vorbehaltlosen Hingabe liegt ihre besondere Kraft, ihre Faszination, ihr Reiz.

Nicht minder beeindruckend ihr zur Seite Louis Musin als Romeo. Der 21-jährige Sohn von Nicholas Musin (der von 1994 bis 1997 selbst als Tänzer im Hamburg Ballett engagiert war), ist schon äußerlich ein geborener Romeo: bildhübsch, charmant, direkt, und in seinem jugendlichen Draufgängertum schlicht umwerfend. Hinzu kommt – wie schon bei Azul Ardizzone – eine tänzerische Virtuosität, gepaart mit dem Mut, sich selbst auf- und ganz in die Rolle hineinzugeben. Musin, der schon in „Liliom“ als Louis und im „Nussknacker“ als schneidiger Kadett Fritz aufgefallen ist, wächst als Romeo schier über sich hinaus. Und so ist Neumeiers Rechnung gerade in der Besetzung der beiden Hauptrollen wunderbar aufgegangen.

Nicht minder jedoch auch in anderen Rollen, die das Stück prägen und mittragen. Da ist vor allem Alessandro Frola als Romeos Freund Mercutio mit der ihm eigenen Eleganz, Nonchalance und Bühnenpräsenz der Sonderklasse. Da ist Artem Prokopchuk als Tybalt, diesem Ekelpaket, der den Charmebolzen Mercutio auf dem Gewissen hat und von Romeo darob erdolcht wird. Da ist Priscilla Tselikova als feine Lady Capulet, die ein Verhältnis mit ihrem Neffen Tybalt hat und durch seinen Tod maskenhaft erstarrt. Da ist Franceso Cortese als übermütig-heiterer Benvolio, Romeos Cousin. Da ist Lennard Giesenberg als still-zurückhaltender Bruder Lorenzo, der Romeo und Julia heimlich traut und Julia den verhängnisbringenden Schlaftrunk gibt. Da ist Yaiza Coll als wunderbar laszive, alles beobachtende Hure. Da ist die gesamte, großartige Kompanie, die sich die Seele aus dem Leib tanzt an diesem Abend.

Und so gibt es am Schluss zu Recht 20-minütige Standing Ovations, wobei sich das Publikum – und das ist selten in Hamburg – schon beim ersten Vorhang für die beiden jungen Protagonisten erhebt, und der Jubel kennt schier keine Grenzen, als die beiden John Neumeier auf die Bühne holen.

Gefeiert wurde auch der mittlerweile fast 86-jährige Jürgen Rose für das ebenso schlichte wie kongeniale Bühnenbild und die opulenten Kostüme. Den einzigen Wermutstropfen an diesem denkwürdigen Abend goss das Philharmonische Staatsorchester unter Simon Hewett in den Wein – da stimmten bei der kraftvollen Musik von Sergej Prokofjew die Tempi oft nicht, die Blechbläser waren nicht in Bestform, und auch ansonsten war das leider keine Sternstunde des Orchesters. Aber das war dann auch das einzige, worüber man meckern konnte an diesem großartigen ersten Abend der Hamburger Ballett-Festwochen.
 

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