Bewegungen durch Raum und Zeit

Entlang einer Bahn aus weißem Tanzboden ist das Publikum in der Heidi Horton Collection platziert. An einem Ende steht eine Vielzahl von unterschiedlichen schwarzen Schuhen und Stiefeln – ganz dem Stücktitel „Défilé pour 27 chaussures“ entsprechend. Mathilde Monnier, gekleidet in ein weißes Herrenhemd und eine schwarze Strumpfhose, bewegt diese nacheinander vorwärts. Einige Paare schiebt sie, manche Schuhe – oder sind es die imaginären Besitzer*innen – scheinen zu springen, manches Mal gibt es nur mehr einen Schuh. Hin und wieder schert „jemand“ aus der Parade aus oder zieht sich auch wieder an den Anfangsort zurück. Mit großer Ruhe und Langsamkeit läuft diese Parade ab. Zwischendurch nimmt Monnier immer wieder Blickkontakt mit dem Publikum auf, das in unmittelbarer Nähe zu ihr sitzt. Kurze humorvolle Momente lockern die meditative Stimmung auf: zum Beispiel wenn sie beim Hineinschlüpfen in Chelsea Boots kurz kämpft.

Wer eine Wiederaufnahme von „Jérôme Bel“ Aus dem Jahr 1995 erwartet hat, ist vielleicht enttäuscht gewesen. Es ist ein neues Stück gleichen Titels geworden. Jérôme Bel, prägende Kraft des zeitgenössischen Tanzes der letzten drei Jahrzehnte, blickt zurück auf seinen choreografischen Werdegang und sein Leben. Doch es ist nicht er selber, der auftritt, sondern der österreichische Schauspieler und Nestroypreisträger Max Meyer, der den von Bel verfassten Text spricht. Auf Wunsch des ImPulsTanz-Intendanten Karl Regensburger nicht nur auf Deutsch sondern für eine zweite Vorstellung auch auf Englisch.

Bel versucht seit einigen Jahren klimaschonend zu arbeiten und zu reisen. Deswegen wird vieles über Videokonferenz oder E-Mails erarbeitet, auch Programmhefte gibt es keine mehr. Eineinhalb Stunden dauert die Vorstellung, die eher als Vorlesung mit Videobeispielen zu sehen ist. Dramaturgisch gut aufgebaut ist es auch eine theoretische Auseinandersetzung geworden: Da geht es unter anderem um die Frage, wie viel Unterhaltungswert Tanz haben kann bzw. soll. Geschickt verpackt Bel hier auch Konsumkritik. Auch die gegenseitige Beeinflussung von Akteur*innen und Publikum, die in jedem Moment passiert und die nur passieren kann, wenn sich alle im gleichen Raum befinden, wird thematisiert. Ein Großteil der besprochenen Stücke, wie unter anderem „Jérôme Bel“, „The Show must go on“, „Véronique Doisneau“, „Disabled Theater“ oder „Isadora Duncan“ war in den letzten Jahrzehnten im Rahmen von ImPulsTanz zu sehen. Viel Applaus für Max Meyer, der sich den Text ausgezeichnet angeeignet hat.

Mit 6. August 2023 ist die 40. Ausgabe von ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival zu Ende gegangen. Insgesamt wurden seit 6. Juli 2023 68 Produktionen von 56 Kompanien bzw. Künstler*innen, davon 11 Uraufführungen, in 165 Vorstellungen vor 47.000 Zuschauer*innen gezeigt. Das Besondere an ImPulsTanz ist, dass hier Performer*innen, Profi-Tänzer*innen, Tanzstudierende aber auch Laien auf unterschiedlichen Ebenen zusammenkommen. Neben den Vorstellungen gab es heuer 224 Workshops mit etwa 3.100 Teilnehmer*innen, 118 Public-Moves-Tanzklassen im öffentlichen Raum bei freiem Eintritt mit knapp 12.000 Besucher*innen, eine Filmschiene, Buchpräsentationen, Symposien und Partys. Bei der großen Geburtstagsfeier im Arkadenhof des Wiener Rathauses begeisterte die feministische Musikerin, Produzentin, Regisseurin und Performance-Künstlerin Peaches das Publikum. 32 Produktionen hat der Autor heuer gesehen, somit einen guten Überblick über das aktuelle Tanzgeschehen gewonnen und in den letzten Wochen auf tanznetz ausführlich darüber berichtet. Man darf sich jetzt schon auf die 41. Ausgabe, die von 11. Juli bis 11. August 2024 stattfinden wird, freuen.