„Le Sacre du Printemps“ von Michiel Vandevelde

Eigenwillig

„Le Sacre du Printemps“ von Michiel Vandevelde am Zürcher Theater am Neumarkt

Eine ebenso ausgefallene wie suggestive Version des Strawinsky-Balletts. Erweitert um einen zweiten Teil, überrascht sie erst recht.

Zürich, 12/03/2023

In Zürichs Theaterleben steht einiges Kopf. Das Schauspielhaus lässt „Schwestern“ (nach Tschechows „Die drei Schwestern“) von einer einzigen Person spielen – und erst noch von einem Mann. Der ebenfalls am Schauspielhaus engagierte Choreograf Trajal Harrell brachte mit seinem Dance Ensemble „Das Haus von Bernarda Alba“ auf die Bühne, wobei es sozusagen keine Parallelen zu Lorcas Stück gab.

Und nun „Le Sacre du Printemps“ zu Igor Strawinskys Ballettkomposition von 1913. Das Stück wird nicht von einem großen Ensemble getanzt, sondern von lediglich zwei Personen: einer sehr üppigen dunkelhäutigen Frau (Brandy Butler) und einem sehr dünnen weißen Mann (David Attenberger). Und statt eines jungen Mädchens, das sich als Opfer für die Fruchtbarkeit der heidnischen Welt zu Tode tanzen muss, übernimmt der Mann diese Rolle. David Attenberger tut das mit viel Ekstase, wobei zuweilen sein ganzer Körper zu zittern beginnt – als hätte Marco Goecke im Hintergrund die Fäden gezogen.

Wer nun aber glaubt, bei der Choreografie des Belgiers Michiel Vandevelde (geb. 1990) handle es sich um eine „Sacre“-Parodie voller Gags, liegt falsch. Strawinskys Musik (vom Band) wird vom Choreografen nicht umgedeutet, die Atmosphäre einer archaischen Welt bleibt erhalten. Nur die Rollen werden vertauscht. Die voluminöse Frau nehmen wir als mythische Erdgöttin wahr, den Mann als überzüchteten Individualisten. Die Körpersprache der beiden beginnt mit Handzeichen, greift dann auf Arme und den ganzen Körper über: Einigermaßen harmonisch bei der Frau, immer nervöser und bis zur Selbstaufgabe beim Mann. Die barfuß getanzten Soli bewältigen beide zuerst einzeln, dann auch gleichzeitig – aber ohne einander je zu berühren.

Eindrucksvolle Projektionen begleiten die Tänze der beiden. Zwei wandteppichartige Bilder der brasilianischen Textilkünstlerin Elen Braga schmücken vorübergehend die Bühne, einmal mit Motiven aus der indigenen Welt, dann mit Wassersymbolen. Später fliegen Kunst- und Alltagsgegenstände über die Leinwand, darunter die Statuette der breithüftigen Venus von Willendorf. Ein schwarzes Loch saugt schliesslich alles auf. Speziell ist auch die „Kleidung“ der Tanzenden: Mit Glasplättchen verzierte Bänder ziehen sich nur knapp über ihre nackten Körper.

Dann die Überraschung: Nach dem rund halbstündigen „Sacre du Printemps“ zu Igor Strawinkys unverwechselbarer Musik wird das Publikum umgeleitet in einen rot ausgeschlagenen Raum hinter der Tribüne. Eine weitere halbstündige Vorstellung beginnt. Die Atmosphäre wandelt sich von archaisch zu anarchisch. Mann und Frau werden nun ein Paar, sie berühren, umarmen, lieben einander. Sie robben herum, kriechen wie Tiere auf allen Vieren durch das auf dem Boden sitzende Publikum. Eine Geburt kündet sich an. Das alles zum elektronischen Beat der Sound- und Performance-Künstlerin Fallon Mayanja. Ihre oft scherbelnde Komposition, parallel zur Choreografie des zweiten Teils entstanden, deutet Naturkatastrophen an und bleibt nicht ohne Bezug zu Strawinskys Ballettmusik. David Attenberger tanzt sich auch hier die Seele aus dem Leib, während Brandy Butler sich etwas selbstbezogener bewegt.

Inzwischen hat es über der kleinen viereckigen Bühne mitten im Zuschauerkreis zu regnen begonnen. Die weißen Papierkleider der Tanzenden lösen sich auf, darunter kommen lianenhafte Netze und schließlich die nackten Körper zum Vorschein. Mann und Frau helfen einander, die letzten Fetzen zu beseitigen, und legen sich dann im Wasser zur Ruhe.

Die Uraufführung von Strawinskys „Sacre du Printemps“ mit dem legendären Vaslav Nijinsky als Choreograf löste bei der Uraufführung 1913 in Paris einen Tumult mit 27 Verletzten aus. Zu dissonant die Musik, zu revolutionär der Tanz. Gegen den „Sacre“ von Michiel Vandevelde im Theater am Neumarkt hat bei der Premiere niemand protestiert. Im Gegenteil: Es gab begeisterten Applaus für diese eigenwillige und gleichzeitig suggestive Inszenierung.

 

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