„Story, story, die“ von Alan Lucien Øyen

Watch me!

Mit den „winter guests“ startet das Festival Steps in den Schweizer Tanzfrühling

Alan Lucien Øyens Tanztheater-Stück „Story, story, die“ ist ein Vexierspiel von großer und beklemmender Aktualität.

Baden, 27/04/2024

Herzlich und voller Vorfreude ist die Eröffnung des Migros-Kulturprozent Tanzfestivals Steps im Foyer des Kurtheaters Baden in Zürichs Nachbarkanton Aargau. Nach über zwei Jahrzehnten unter der Ägide von Isabella Spirig ist die diesjährige Steps-Ausgabe die erste unter neuer Leitung. Die Dramaturgin Selina Beghetto, die Choreografin und Produzentin Marine Besnard und Frank Fannar Pedersen, Künstlerischer Leiter der Tanzsparte am Theater St. Gallen, bilden das Programmteam; die Gesamtleitung hat Valeria Felder inne. Beachtliche Zahlen zeigen, was das Publikum bis einschließlich des Pfingstwochenendes erwartet: An 28 Orten in der ganzen Schweiz werden 54 Vorstellungen zehn verschiedener zeitgenössischer Produktionen in 34 unterschiedlichen Spielstätten gezeigt. 

Letzten Monat noch in Taipeh aufgeführt, ist Alan Lucien Øyens „Story, story, die“ in Baden das Auftaktstück von Steps. Øyen, seit über 10 Jahren „artist in residence“ beim Norwegischen Nationalballet und international als Choreograf tätig, hat schon 2006 seine Compagnie „winter guests“ gegründet, die in Bergen beheimatet und auf Gastspielen in aller Welt unterwegs ist. Zum ersten Mal ist sie auf einer Schweizer Bühne zu sehen. 

„Story, Story, die“ ist Tanztheater mit großer und beklemmender Aktualität. Auf der schwarzen, kargen Bühne, auf der es nur eine Tür, einige Stühle und ein Megafon gibt, zeigen die sieben grandiosen Performer*innen in 90 Minuten eine verstörende Welt, deren krankmachende Auswirkungen Psychologen seit Jahren gehäuft zu spüren bekommen. Eine Welt, in der Menschen die Darstellung ihrer „Ichs“ in den Social-Media-Universen nicht mehr zusammenbringen mit dem, was sie wirklich sind oder glauben zu sein. Hilflos treibend im Strudel des Zwangs zur Selbstoptimierung und Selbstdarstellung, der Angst, etwas zu verpasssen, der Sucht nach immer mehr Likes, verlieren sie den Bezug zu sich selbst und die Fähigkeit zur authentischen sozialen Interaktion. 

Alex Clair, Ioannis Yáya Logothetis, Pascal Marty, Adam McGaw, Evan Sagadencky, Kluane Thompson und Yi-Chi Lee verausgaben sich verbal (es gibt viel gesprochenen Text) und physisch in den vielen Sequenzen, die zeigen, dass Øyen der Kinematografie sehr zugetan ist. Wie in einem schnell geschnittenen Film scheinen sich die Szenen teilweise zu überblenden, ein getriebenes Vexierspiel mit vielen Ebenen: Was ist Außen, was zeigt das Innere, was wird fantasiert, was ist Realität? Selbstdarstellung und Zurschaustellung, Taxieren und Taktieren bestimmen die Aufeinandertreffen der sieben Performer*innen in allen Konstellationen. Auch Gruppenszenen durchbrechen die Vereinzelung nicht; sie lassen kein Gefühl von Gemeinschaft entstehen, vermitteln ein Miteinander, das nichts teilt, in dem auch Berührungen nicht wirklich berühren. Der Choreografie gelingt es auf bemerkenswerte Weise, auch mit physischer Nähe eine Distanz zu verdeutlichen, unter der ein verzweifelter Wunsch nach Nähe brodelt.

Der Text, der das Stück und die Choreografie neben dem Sound von Terje Wessel Øverland und Gunnar Innvær entscheidend trägt, reicht von Social-Media-Sprache über banale Dialoge bis zu poetischen Reflexionen über Krähen und der Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling. 

Es gibt viele Momente, die gleichermaßen den Atem stocken lassen wie auch tiefes Mitleid hervorrufen. Eindrücklich die Szene, in der Evan Sagadencky in einem Solo mit Worten und Bewegungen, die auf virtuose Weise ungelenk sind, seine Verwundbarkeit preisgibt - bis hin zur Selbstentblößung im Wortsinn. Er steht schließlich in Unterwäsche da, wird von den anderen als Skelett bemalt, während Kluane Thompson Worthülsen säuselt, die an eine schlechte Mental-Health-App erinnern. In der vorletzten Sequenz kann das Skelett nur noch wortlos in das Megafon atmen und sich dann schließlich noch wie abgeschnürt ein „„It's a lie, I just pretend“ herauspressen. 

Nach 90 Minuten wird ein letztes, flehendes „I am here“ vom Blackout erstickt, auch dieser Augenblick löst Beklommenheit aus. Durchbrochen wird diese vom enthusiastischen Premierenapplaus der über 500 Zuschauer*innen. Er ist wohltuend, weil er daran erinnert, dass man in einem gemeinschaftlichen Erlebnis vereint ist. 

„Story, story, die“ ist trotz gelegentlicher Längen ein fesselndes Stück und ein starker Start in die Steps Festivalwochen. Die „winter guests“ werden sicher auch in Chur, Zug, Vevey, Bern, St. Gallen und Neuchâtel für Begeisterung und Nachdenklichkeit sorgen.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern