„Giselle“ von Patrice Bart

„Giselle“ von Patrice Bart

Trotz Rentenkrise in Hochform

Das Ballett der Pariser Oper tanzt „Giselle“ im Palais Garnier

Sobald sich der Vorhang hob, waren die Rentenkonflikte schnell vergessen. Die älteste Ballettkompanie der Welt präsentierte deutlicher als jede Rede, warum es sich lohnt, dieses Erbe zu bewahren.

Paris, 06/02/2020

Es war in den letzten beiden Monaten ein beinahe unmögliches Unterfangen, einer der zahlreichen angesetzten Ballettvorstellungen („Raymonda“, „Le Parc“, „Giselle“ und ein Balanchine-Ballettabend) an der Pariser Oper beizuwohnen: selbst wenn man es trotz des Ausfalls fast aller öffentlicher Verkehrsmittel geschafft hatte, sich nach Paris und schließlich zum Opernhaus zu begeben, musste man damit rechnen, dass die Vorstellung im letzten Moment abgesagt wurde. Grund dafür ist der andauernde Streik um die französische Rentenreform, der längste in der 350jährigen Geschichte der Pariser Oper. Angesichts der Enttäuschungen und Streitigkeiten, die ein Millionenloch in den Haushalt der Kompanie gerissen haben, war die Stimmung in Kulissen und Zuschauerraum auch bei den wenigen Vorstellungen, die dieses Jahr stattfanden, aufgeheizt. Eine Nachricht der Gewerkschaft, die vor den Aufführungen vorgelesen wurde, um den Streik zu erklären, wurde von Teilen des Publikums mit wütenden Buhrufen und Beschimpfungen aufgenommen. Doch sobald der Vorhang sich dann am vergangenen Wochenende endlich zu „Giselle“ hob, waren die Konflikte schnell vergessen. In dieser Vorstellung demonstrierte die älteste Ballettkompanie der Welt deutlicher als jede Gewerkschaftsrede, warum es sich lohnt, das Erbe des klassischen französischen Tanzes zu bewahren.

Die Uraufführung von „Giselle“ im Jahr 1841 ist ein Meilenstein in der Geschichte der Pariser Oper und des Balletts. Das Libretto von Théophile Gautier und Henri Vernoy de Saint-Georges basiert auf der von Heinrich Heine überlieferten Legende von den rachsüchtigen Wilis, die alle Männer, welche ihnen im Wald begegnen, dazu zwingen, sich zu Tode zu tanzen. Inspiriert von Balletten wie „La Sylphide“ (1832) entwarfen die Librettisten einen poetischen „weißen“ Akt, in dem sie die nächtlichen Reigen der Wilis in Szene setzten. Diesem fügten sie einen handlungsreicheren ersten Akt hinzu, in dem das Bauernmädchen Giselle von ihrem Geliebten Albrecht verraten wird, stirbt und zur Wili wird. Das Ballett wird heute an der Pariser Oper in einer traditionsbewussten Version von Patrice Bart aus dem Jahr 1991 aufgeführt. Diese bezieht sich auf die Pariser Urfassung von Jean Coralli und Jules Perrot (Choreografie) und Adolphe Adam (Partitur) sowie deren russische Überarbeitungen von Marius Petipa aus dem späten 19. Jahrhundert. Bühnenbild und Kostüme basieren auf Entwürfen von Alexandre Benois.

Die Premierenbesetzung der derzeitigen Pariser Wiederaufnahme vereinte zwei herausragende Étoiles der Kompanie, Dorothée Gilbert und Mathieu Ganio. Gilbert, die schon lange über eine unerschütterlich souveräne Technik verfügt, hat in den letzten Jahren einiges an Sensibilität und darstellerischer Tiefe gewonnen; dies macht sie zu einer idealen Besetzung für die Doppelrolle der Giselle. Von ihrem ersten Auftritt an tanzt sie mit der überbordenden Energie eines frisch verliebten Mädchens und ist ständig in Bewegung, bis sie durch die Erkenntnis von Albrechts Betrug jäh in ihrem Elan gebremst wird und jede Daseinsfreude, den Verstand und schließlich das Leben verliert. Ihre Verwandlung in einen Elementargeist im zweiten Akt ist atemberaubend: schneeweiß und schwerelos weht sie über die Bühne wie die Nebelschwaden, die mit der Ankunft der Wilis die Waldflur zu durchziehen beginnen, hält zeitweise in endlosen Balancen inne oder schwebt in Albrechts Arme, wobei ihre Füße kaum je den Boden zu berühren scheinen. Ihr diaphaner Tüllrock betont die fließende Linie vom sanft gebeugten Kopf bis zu ihren expressiven Füßen; ihre grazilen Arme ondulieren mal mit beschützender Zärtlichkeit Albrecht entgegen, mal flehen sie die eiskalte und unerbittliche Myrtha (Valentine Colasante) um dessen Leben an. Giselles Leichtigkeit spiegelt hier die Reinheit ihrer Seele wider, die sie zu Verzeihung und bedingungsloser Liebe über den Tod hinaus befähigen.

Gilberts Partnerschaft mit Ganio ist auch deswegen besonders harmonisch, weil er Albrecht nicht als einen Lebemann, sondern als aufrichtig von Giselle begeisterten Jüngling portraitiert, der sich zu spät den Folgen seines gedankenlosen Handelns bewusst wird. Ganio besticht nicht nur durch seine unübertreffliche Eleganz und makellose Linie, die ihn für diese Rolle prädestinieren, sondern auch durch sein nuanciertes Spiel. So vermittelt er beispielsweise klar, dass Albrecht im ersten Akt zögert, mit Giselle und ihren Freunden zu tanzen, weil der als Dorfbewohner verkleidete Herzog die Tänze der Bauern nicht kennt, und dass er daraufhin die Schritte seiner Partnerin imitiert. Seine aristokratische Haltung klärt seinen Rivalen Hilarion (Audric Bezard) bald über Albrechts wahre Identität auf. Giselles Verzweiflung stürzt ihn während der Wahnsinnsszene in tiefe Reue, und im zweiten Akt erscheint er geläutert und kaum mehr dem Diesseits angehörig. Zwar bittet auch er Myrtha um sein Leben, während er sich mit unverminderter Noblesse an den Rand des Erschöpfungstodes tanzt, doch lässt er dabei nichts von der Todespanik des kurz zuvor den Wilis zum Opfer gefallenen Hilarion erkennen. Angesichts seines hingebungsvollen Abschieds von Giselles Geist und des entrückten Blickes, mit dem er langsam, eine Blume von Giselles Grab in der Hand, auf den sich schließenden Vorhang zuschreitet, scheint seine Rückkehr in sein altes Leben nur schwer vorstellbar.

Auch das Ensemble zeigte sich in exzellenter Form, vor allem im zweiten Akt, in dem die Wilis sich perfekt koordiniert zu immer wieder neuen bewegten Tableaux formieren. So kann man nur hoffen, dass trotz des Streiks viele Zuschauer*innen die Gelegenheit bekommen, diese „Giselle“ zu sehen, denn was könnte besser von der im Rentenstreit oft zitierten Exzellenz der Pariser Oper überzeugen als eine solche Darbietung?
 

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