„Vom Sinn der Sinnlichkeit“ von Gregor Zöllig

„Vom Sinn der Sinnlichkeit“ von Gregor Zöllig

Reizüberflutung contra Meeresrauschen

Gregor Zöllig erzählt am Staatstheater Braunschweig „Vom Sinn der Sinnlichkeit“

Was bedeutet die tägliche Reizüberflutung für unsere sinnliche Wahrnehmung? Mit dieser Frage beschäftigt sich Gregor Zöllig in seinem neuesten Werk. Und der Braunschweiger Tanzchef geht auch gleich in die Vollen.

Braunschweig, 09/02/2020

Flackernde Bildschirme, rotierende Wäschetrockner, zuckende Lichtimpulse und ein Lautgemisch aus Motorengeräuschen, Hämmern, Stimmengewirr und blechernen Musikfetzen strapazieren Augen und Ohren gleichermaßen. Keine Chance, sich dem akustischen und visuellen Wirrwarr zu entziehen. Nicht einmal räumliche Distanz bleibt als Zuflucht erhalten, denn die Bühne geht nahtlos in den Zuschauerraum über, ist wie ein Catwalk langgestreckt und umgeben von den Sitzreihen für das Publikum. Nur wer aus der jeweils zweiten Reihe an den Seiten zuschaut, erhält - vielleicht ungewollt – Sichtschutz, wenn sich das Geschehen im seitlichen Blickfeld oder auf dem Boden abspielt.

Zölligs Botschaft ist eindeutig: Unsere Welt der beständigen Bombardierung mit Eindrücken, die um unsere Aufmerksamkeit buhlen, führt nicht zur Schärfung der Sinne, sondern zu deren Abstumpfung. Die neun Tänzer*innen bewegen sich zwar synchron und dicht zur Gruppe zusammengedrängt in immer neuen Formationen. Doch es ist eine Pseudo-Gemeinschaft der Getriebenen, die sich fremd bleiben und mit leerem Blick Orientierung suchen. Gekleidet in glänzende, glitzernde oder mit Pailletten besetzte schwarze Kostümen sind sie selbst Teil der allgegenwärtigen Hektik, laufen ziellos umher, gesteuert von den Rhythmen des immer nervenaufreibenderen Getöses.

Dann reduzieren sich die Reize, die Kostüme sind fließender, Blau- und Erdtöne lösen das kalte Gefunkel ab. Das omnipräsente Störfeuer an Alltagslärm weicht melodischeren Klängen. Es ist Zeit, sich mit den eignen Sinnen auseinanderzusetzen. Und das geschieht sehr plakativ. Apfelschnitze und feuchte Frotteetüchlein werden angeboten, was an den Bordservice in einem Flugzeug erinnert. Das freundliche Szenario wechselt mit der demütigenden Gestik eine Tänzerin, die ihren Partner nach Art einer Hundefütterung mit Apfelstückchen versorgt. So offenbart jeder unserer Sinne seine positive und negative Seite: zartes Berühren und aggressives Unterwerfen, sinnlicher Körperduft und der imaginäre Gestank eines toten Tieres, das demonstrativ durch den Raum getragen wird.

Die Choreografie ist kraftraubend. Das neunköpfige Ensemble muss viel rennen, zu Boden stürzen und über denselben robben. Immer wieder verschlingen und verrenken sich Paare in kunstvollen Duos. In Dreiergruppen fangen sich die Akteure gegenseitig auf, wenn einer von ihnen zu fallen droht. Gleichwohl bleibt das Bewegungsspektrum hinter der variantenreichen Tanzsprache anderer Werke Zölligs zurück. Auch ein roter Faden ist nicht zu erkennen.

Doch am Ende wird das Publikum mit einer hoffnungsvollen Aussicht entlassen: Wir können uns wieder auf uns selbst besinnen, wenn wir nur wollen. Und zum Schluss erklimmt ein Tänzer die Kulissenwand an der hinteren Raumseite. Hoch oben sitzt er und hält die Hände wie Muscheln über seine Ohren. Meeresrauschen erklingt, das sanfte Geräusch, das beruhigt und uns auf unseren Ursprung verweist.
 

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