„Being human – menschlich Sein“ von Guido Markowitz

„Being human – menschlich Sein“ von Guido Markowitz

Ohne Opernglas

Guido Markowitz' Experiment am Theater Pforzheim

Re-Inszenierung des Pforzheimer Balletts „Die vier Jahreszeiten“ als Gemeinschafts-Video-Projekt „Being human – menschlich Sein“.

Pforzheim, 01/06/2020

Vergessen Sie Netflix, vergessen Sie die Streaming-Dienste. Das Ballettabteilung des Stadttheater Pforzheim hätte das Zeug für eine neue, süchtig machende Serie. Die Corona-Krise mit in der Folge verrammelten Theatertüren zwang die Tänzer*innen um Ballettchef Guido Markowitz und seinen Stellvertreter Damian Gmür zum Stillhalten. Doch die gleiche Dynamik, die sich auch im experimentierfreudigen Programm spiegelt, setzte das Ensemble nun ein, um sich auf einen Tanzboden im Netz zu bewegen. Doch wie soll Ballett im Internet gehen?

Nun, ein Opernglas braucht man jedenfalls nicht, um die Bewegungen des Ensembles beim Tanz durch „Die vier Jahreszeiten“ zu verfolgen. Vielleicht haben diejenigen, die die Uraufführung am 25. Januar oder eine der Aufführungen bis zum Lockdown gesehen haben den Vorteil, dass sie das Stück gut kennen. Wenn überhaupt ist der Vorteil ein winziger. Im Prinzip braucht man ihn nicht, denn in dem vierteiligen und nun seit 30. Mai als Zusammenfassung auf Plattformen wie youtube und VIMEO präsentierten Tanzfilmen „Being human – das menschliche Sein“ wird eine ganz eigene Form der Aufführung kreiert.

Dabei werden mit Hilfe des Kölner Videofilmers und Tänzers Michael Maurissens alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Die Solistenrolle von Abraham Rodriguez Iglesias, eine ungewöhnliche Choreografie auf der „echten“ Bühne schmückend, verschwindet dadurch etwas. Das Ensemble rückt dank raffinierter Mosaik-Technik und Überschneidungen – der maskierte Tänzer im Winter scheint sich sein „nacktes“, wehrloses Opfer mit der großen Hand zu greifen – zusammen, ist wieder als ein einziger tanzender Körper vereint.

Die von Max Richter neu interpretierte Musik von Antonio Vivaldis Jahreszeiten ist dabei natürlich unterlegt. Es ist so gesehen nicht nur eine Neuauflage der „Vier Jahreszeiten“, sondern wiederum eine Uraufführung als Gemeinschafts-Video-Projekt, das sich mit dem Mensch-Sein beschäftigt. Über 220 Mal wurde dafür in den privaten Räumen der Tänzer*innen eine Kamera aufgestellt. In ihrem Wohnzimmer zwischen Topfpflanzen und Fernsehgerät. Im Schlafzimmer, die Matratze des Futons mit einbeziehend, im Hintergrund das zusammengeklappte Bügelbrett hinter der Schrankwand. Auf der Terrasse, wer denn eine hat. Im leeren Swimmingpool des Gartens. Wenn genug Platz ist, tanzen sie auch zu zweit auf einer Dachterrasse, hinter sich die Kulisse Pforzheims, oder die Treppe des Schmuckmuseums hinunter. Sie klammern sich voll Sehnsucht an eine Kommode, hauen mit der Faust auf ihren Küchentisch, flehen die Fotokollage ihrer Wand an. Das hat etwas Persönliches, das ist interessant, weil die Alltagsumgebung in die Interpretation der „Vier Jahreszeiten“ einfließt. Natürlich tanzen sie nicht im Schlafanzug oder in ausgebeulter Jogginghose, kommunizierend mit ihrer eigenen Umgebung. Sie haben ihre von Marco Falcioni entworfenen Kostüme an. Und sie sind frei in ihrer Gestaltung, die Elemente des Tanzes sind wiedererkennbar, werden aber an die räumlichen Gegebenheiten angepasst. Große Sprünge sind da nicht drin. Vielleicht wird deshalb jede Mimik, jede noch so kleine Bewegung bedeutsamer.

Und da wird auch der Vorteil dieser Inszenierung, bei der die Ausschnitte wechseln, nebeneinander gestellt werden und zuletzt als eine Art Mosaik das Ensemble am Bildschirm dann doch wieder zusammenführt auf eine Bühne, klar: Man kommt den Tänzer*innen nah. Und man wird gewahr: Es sind auch Schauspielende. Einen Körper Ausdrücke wie Sehnsucht, „Leben fühlen“, Tod und Erwachen spielend tanzen zu lassen oder tanzend spielen zu lassen, würde nicht ausreichen. Das Gesicht mit seiner Mimik gehört unabdingbar dazu. Und genau das sieht man nun. Ohne Opernglas. Die Arbeit dahinter kann man nur ahnen. Das Experiment ist geglückt.
 

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