„Kleines Requiem“ von Hans van Manen. Tanz: Skyler Maxey Wert und Alejando Martinez

„Kleines Requiem“ von Hans van Manen. Tanz: Skyler Maxey Wert und Alejando Martinez

Abstand überwunden

Ballettabend „We will dance“ an der Semperoper in Dresden

Die Reihe „Semper Essenz“ macht Essenzen des Tanzes lebendig: Neben Ausschnitten von Petipa, Forsythe, Kylián, Ekman und van Manens „Kleinem Requiem“ gibt es Uraufführungen von Nicholas Palmqvist und Joseph Hernandez.

Dresden, 04/10/2020

Der erste Eindruck ist ungewöhnlich. Gut 300 Menschen in der Semperoper, auf Abstand, im Parkett und in den Rängen. Aber es hat den Anschein, als ließen sich diese Abstände überwinden, denn die Stimmung, die Atmosphäre, in so einender Konzentration, beinahe von andächtiger, erwartungsfroher Aufmerksamkeit, führt die Menschen zusammen, in ihrer Hinwendung zum Tanz, zu ihrem Ballett in Dresden. Dass nun an diesem Abend in gut 90 Minuten diese vergängliche Kunst bewegter Augenblicke dem Publikum so nahe kommt und es berührt, das verdankt sich der klugen Programmkonzeption des Dresdner Ballettdirektors Aaron S. Watkin.

Klar, auch etwas Wehmut schwingt mit, denn zunächst erinnern Ausschnitte aus Aaron S. Watkins erfolgreicher Choreografie des romantisch-klassischen Balletts „La Bayadère“ nach den Überlieferungen von Marius Petipa, sogar mit einem optischen Zitat der Dresdner Ausstattung, daran, was derzeit eben in vollem Umfang nicht möglich ist. Aber schon sind solche rückblickenden Gedanken verflogen, wenn die Tänzerinnen und Tänzer zunächst mit dem Pas de six und mit dem Pas de quatre alle Trübnis einfach wegtanzen. Dazu kommen erste Höhepunkte, wenn Svetlana Glieva und Denis Veginy in den Hauptpartien des Balletts als Gamsatti und Solor mit technischer Eleganz und individueller Präsenz an die ästhetischen Quellen der Ursprünge dessen führen, woraus sich die folgenden Beiträge entwickelt haben.

Wie erfreulich ist es zu sehen, etwa im Pas de quatre der Herren Anthony Bachelier, Gustavo Chalub, Václav Lamparter und Rodrigo Pinto aus „Raymonda“ mit der Musik von Alexander Glasunow, wie es gelingen kann, in der Achtung vor den ursprünglichen Choreografien Petipas, alle Vorzeigegestik falsch verstandener Techniken des klassischen Balletts kraft künstlerischer Individualität zu überwinden. Und welche Kraft von einer einzelnen Tänzerin auf der großen, leeren Bühne ausgehen kann, wenn Alice Mariani Variationen der Raymonda tanzt.

Dann lassen die ersten Klänge des Cellisten Norbert Anger auf der Bühne ein besonderes Flair entstehen, so als könne man die Stille hören. Wenn sich Sangun Lee aus dem Dunkel sich in das leicht getrübte Licht bewegt, mit diesen so zerbrechlich wirkenden Führungen der Arme, als „Der sterbende Schwan“ nach der berühmten Choreografie von Michail Fokine aus dem Jahre 1907 zur Musik von Camille Saint-Saëns, dann möchte man sich fragen, wie es denn nur möglich ist, dass es dem Tanz hier gelingt, Todesangst zu symbolisieren und dennoch zu überwinden.

Natürlich ist die Musik an diesem Abend von besonderer Wirkung. Mit seinen Arrangements für eine kleine Orchesterbesetzung und mit seiner umsichtigen und den Atem des Tanzes beachtenden Leitung, gelingt es dem Dirigenten Benjamin Pope auf jenes nicht immer so zu erlebendes Zusammenwirken der Klänge und des Tanzes in der Korrespondenz zur Weite des Raumes auf sehr intensive Weise einzuwirken.

Noch einmal zurück in das Jahr 1846, als in Paris des Ballett „Paquita“ uraufgeführt wurde. Eigentlich wurde dieses Ballett erst richtig bühnentauglich durch die Aufführung am 27. Dezember 1881 in St. Petersburg und das im zweiten Aufzug hinzugefügte große Divertissement sowie den Grand Pas für das Solotanzpaar. Was nun hier in Dresden zu erleben ist, das dürfte wohl vorerst einmalig sein. Zur Musik von Éduard Deldevez und Ludwig Minkus gibt es in pausenloser Abfolge acht Variationen der Ballerinen und eine des Ballerinos (Julian Amir Lacey als Lucien d´Hervilly), wobei die Klänge der Celesta schon an den noch folgenden Ausschnitt aus Tschaikowskys Ballett „Der Nussknacker“ erinnern. In diesen neun kurzen Variationen scheint sich beinahe der ganze Kosmos der Techniken klassischer Tanzkunst zu eröffnen mit Drehungen, Sprüngen, den Arabesquen auf Spitze, den Varianten der Cabriole mit dem seitwärts hoch geführten Arm der Tänzerin als Zeichen des Bezugs zur Höhe beim leichten Sprung, nahe noch am Boden, als ginge der Tanz jetzt über in den Flug. Immer wieder lassen sich diese Momente höchster Energie erspüren, etwa in der Kunst der Pirouette bei minimalster Berührung des Bodens.

Im nächsten Moment tanzen Alejandro Martínez und Skyler Maxey-Wert zur Musik von Henryk Mikolay Górecki einen Ausschnitt aus Hans van Manens Choreografie „Kleines Requiem“. Sie tanzen es nicht allein, denn einem einsamen Monolog gleich und durch die zärtlich erotische Nähe der beiden Männer ausgeschlossen, ist Jenny Laudadio auf ihrem Weg des Verlöschens. Hans van Manen, ohne die klassischen Grundlagen zu vernachlässigen, brachte wie kaum ein anderer die Emanzipation der Tänzer in die Tanzkunst des 20. Jahrhunderts: wie hier, wenn zwei Männer gleichberechtigt im Pas de deux tanzen. Dass sich nun im Kontext der zeitgenössischen Entwicklung des Tanzes technische Ansprüche und individuelle Kraft des Ausdruckes mit der Kraft persönlicher Assoziationen verbinden, wird in diesem so hingebungsvoll getanzten Duett spürbar. Allein, auch nach so intensiven Momenten der Nähe, führen die Wege der beiden Männer doch in die Einsamkeit. Hans van Manens „Kleines Requiem“ sollte eigentlich als Dresdner Erstaufführung mit der Premiere des ersten Ballettabends dieser Saison, „Vier letzte Lieder“, ins Repertoire kommen. Nun wissen wir, darauf zu warten, lohnt auf jeden Fall.

Noch wesentlich weiter in der ästhetischen Entwicklung des Balletts geht William Forsythe, und ohne einen Beitrag dieses Meisters des 20. Jahrhunderts, der nun im November mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST für sein Lebenswerk geehrt wird, wäre diese Gala des Dresdner Balletts wahrhaft unvollständig. Man traut ja auch seinen Augen kaum, wenn man in den beiden Ausschnitten der Kreation „Artifact“ zu Musik von Johann Sebastian Bach mit Verfremdungen von Eva Crossmann-Hecht, so einiges, jedenfalls von der grundsätzlichen Motivation her, mit dem unerbittlichen Anspruch höchster Techniken des Tanzes, blitzartig zu erahnen scheint. Wie Forsythe dabei die Körper der Tänzer*innen zum einen in ganz neue Bereiche des Ausdrucks, aber auch bis in regelrecht grenzüberschreitende Varianten der Bewegungsexplosionen führt, das können die Dresdner eben besonders gut. Hier sind es Alejandro Martinez, Houston Thomas, Marcello Giombelli, Rodrigo Pinto und James Potter im 1. Canon, Joseph Gray, Johannes Goldbach, Kristóf Kovácz und Casey Ouzounis im 2. Canon.

Wenn schon Erinnerungen an große Momente hochkommen, dann darf eine so wunderbare Kreation wie „On the Nature of Daylight“ von David Dawson, der als Hauschoreograf an die 15 Arbeiten hier kreiert hat, nicht fehlen. Dieses ganz wunderbar getanzte Duett von den beiden neu verpflichteten ersten Solisten Sofiane Sylve und Carlo Di Lanno berührt durch die tänzerische Nähe und Zuneigung in der so ungemein melancholischen Eleganz des Tanzes zum grundierenden Klangsound von Max Richter.

Der Humor hat auch seinen Platz. Gewissermaßen als kleines, heiteres Intermezzo tanzen Kaitlyn Casey und Julian Amir Lacey einen Ausschnitt aus Alexander Ekmans »Cacti« zu live gespielten Passagen aus Joseph Haydns Streichquartett Nr. 16.

Der Dresdner Tänzer Joseph Hernandez hat Lust am Überschreiten der Grenzen und an der Suche nach neuen Räumen, neuen Klängen, neuen Bewegungen, neuen Formen und Chancen des tänzerischen Ausdrucks. Das hat er sowohl mit Arbeiten für das Semperoper Ballett gezeigt, aber ebenso mit choreografischen oder tänzerischen Arbeiten in der freien Szene, zuletzt unter freiem Himmel auf der Dresdner Hauptstraße. Bei aller Freiheit, frei von ästhetischen Ansprüchen sind seine Arbeiten nicht. In seiner Uraufführung „These Arms“ zum kräftigen Sound des jungen Dresdner Musikers und Komponisten Johannes Till lässt er Aidan Gibson, Sangeun Lee, Raquél Martinez und Courtney Richardson sowie Christian Bauch in optischen Grenzbereichen zwischen Hell und Dunkel tänzerisch agieren, dazu im bewegungsgmäßigen Dialog mit der elektronischen, raumgreifenden Klangkraft. Erkennbar sind auch immer wieder Motive unterschiedlicher Dialoge individuell geführter Bewegungen mit denen der Gruppe.

Darauf folgt - ebenfalls als Uraufführung - eine erste Arbeit des amerikanischen Choreografen Nicholas Palmqvist in Dresden. Keine Frage, es möge bitte nicht die letzte sein! Denn es macht großen Spaß zu erleben, wie in dieser kurzen Uraufführung zum Sound der 60er Jahre von Otis Redding so richtig die Post abgeht. Christian Bauch, Casey Ouzounis und Marcelo Gomez, der sich nun nach Gastspielen in der letzten Saison, als neuer erster Solist und Ballettmeister des Ensembles vorstellt, geben mit voller Lust und tänzerischer Bravour so grandiose wie charmante Party-Boys. Mittanzen ist leider (noch) nicht erlaubt, dennoch scheint der Abstand im Verlauf des Abends, spätestens jetzt, zwischen der Bühne und den Zuschauenden so gut wie überwunden zu sein.

Ja, auch noch etwas für's Gefühl gibt es, wer ein wenig schluchzt, muss sich nicht schämen. Francesco Pio Ricci tanzt zu Musik von Dirk Haubrich, stark angelehnt an die besinnlichen Klänge des Adagios aus Beethovens erstem Streichquartett, das finale Solo aus „Gods and Dogs“ von Jiří Kylián. In dieser Kreation, deren Titel sich sowohl auf Motive altägyptischer, mythologischer Darstellungen eines Gottes als Gegenüber zu einem Hund als auch auf die freundlichere Variante, dass Gott dem einsamen Adam nach der Trennung von Eva einen Hund schenkte, bezieht, geht es in verschiedenen Varianten um Themen wie Vergänglichkeit, Leben und Tod, Beginn und Ende - aber eben auch immer wieder um Neuanfänge, seien sie noch so zaghaft. Es bleibt unklar, ob das Licht hinterm geheimnisvollen Vorhang aus unzähligen Schnüren längst verloschen ist, oder eben nicht. Im finalen Solo tanzt Francesco Pio Ricci vor dem immer bewegten, geheimnisvollen Hintergrund und vor dem so wunderbaren, vom leisesten Luftzug bedrohten Licht einer einsamen Kerze an der Rampe der großen Bühne, vor dem jetzt dunklen Abgrund des leeren Orchestergrabens. Ja, das Licht auf der Bühne verlischt, der Tänzer verliert sich schemenhaft in anbrechender Dunkelheit, aber das kleine Licht, das leuchtet. Der Tanz geht weiter! Einen treffenderen und berückenderen Abschluss nach dieser Hommage an die Kraft dieser Kunst, über alle Abstände und Einschränkungen hinweg, kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen.
 

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