„Tod in Venedig“ von John Neumeier. Tanz: Christopher Evans, Atte Kilpinen

„Tod in Venedig“ von John Neumeier. Tanz: Christopher Evans, Atte Kilpinen

Zeitgemäßer Totentanz

Wiederaufnahme von John Neumeiers „Tod in Venedig“ in Hamburg

Es war eine Aufführung kurz vor der erneuten Schließung der Theater aufgrund der Corona-Pandemie und ebenso ein Bekenntnis zum Tanz wie ein Spiegel für die verrückte Situation, in der wir zurzeit leben.

Hamburg, 01/11/2020

Uraufgeführt 2003, dann 2014 in wechselnder Besetzung erneut gezeigt, wurde Neumeiers Adaptation von Thomas Manns berühmter Novelle jetzt erneut auf den Spielplan gesetzt, wiederum mit einigen Rollendebuts. Und manchmal erscheint es fast schon als Fluch, wenn man ein Stück von Anfang an mit herausragenden Solist*innen gesehen hat, denn die Messlatte wird damit für die Nachfolgenden hoch gelegt, sehr, sehr hoch.

2003 hob Lloyd Riggins als Aschenbach (der bei Neumeier ein Choreograf ist) das Stück aus der Taufe und prägte diese Rolle auf seine Weise mit ebenso großer Noblesse wie innerer Zerrissenheit. Carsten Jung gab dem Aschenbach mehr Kanten und Virilität, ohne an Sensibilität einzubüßen. Ivan Urban war „Friedrich der Große“, für den Aschenbach ein Stück entwirft, und dem Urban eine wunderbare Arroganz verlieh, immer auf der Suche nach dem Wahren, Großen, Einzigartigen. Laura Cazzaniga und später Anna Polikarpova zeichneten die dreifache Rolle (Aschenbachs Assistentin, seine Mutter und Tadzios Mutter) ebenso kapriziös wie elegant und souverän. Für den Part des Tadzio hatte Neumeier seinerzeit den noch ganz jungen Edvin Revazov ausgesucht, der mit seiner Größe dem naiven Jüngling im Kontrast zu Aschenbach ein ganz eigenes Ungestüm verlieh, das 2014 durch Sasha Trusch und Aljoscha Lenz mit ihrem jugendlichen Charme noch getoppt wurde. Unvergesslich auch Otto und Jiří Bubeníček in einer ihrer Glanzrollen als Wanderer, Gondoliere, Tanzpaar, Dionysos, Friseure und Gitarristen. Wenn man diese früheren Generationen des Hamburger Balletts kennt und oft gesehen hat, fällt es schwer, die Rollendebuts von heute unbefangen zu beurteilen – man ist einfach verwöhnt von der künstlerischen Ausdruckskraft und der ebenso kraftvollen wie sensiblen Bühnenpräsenz der Älteren.

In der Kompanie von heute gibt es hervorragende Tänzer*innen – kein Zweifel! Aber wie groß der Unterschied ist, merkt man vor allem dann, wenn die Erfahrenen sich mit den Youngsters mischen. Da brauchen Silvia Azzoni und Sascha Riabko als „Aschenbachs Konzepte“ (die sie schon 2003 getanzt haben und heute mit noch mehr Intensität und Eleganz erfüllen denn je) nur mit wenigen Schritten ganz hinten die Bühne zu betreten – und schon fesseln sie den Blick und alle Aufmerksamkeit. Das gilt auch für Hélène Bouchet als „La Barberina“, deren puristischer Stil und Eleganz sofort herausstechen. Es ist diese einzigartige Innigkeit und Hingabe im Tanz, die diese älteren Hamburger Solist*innen auszeichnet, die so kostbar ist und jahrzehntelang das Aushängeschild der Hamburger darstellte, und die die Jüngeren kaum noch Gelegenheit haben zu lernen.

Das zeigte auch diese nun erste und gleichzeitig letzte Aufführung von „Tod in Venedig“ vor dem neuerlich angeordneten Shutdown. Christopher Evans ist tänzerisch tadellos, und er müht sich nach Kräften, dem Aschenbach Kontur zu verleihen – und doch gelingt das erst so richtig im allerletzten Pas de Deux mit Tadzio, wenn er schluchzend den Jungen im Arm hält, nach dem er sich so gesehnt hat, bevor er stirbt. Es ist dieser Moment, der mit vielem versöhnt, was vorher unerfüllt blieb. Atte Kilpinen als Tadzio versprüht zwar unbekümmerten Charme, aber irgendwo weiß man nicht so recht, was ihn mit Aschenbach verbindet. Anna Laudere bleibt eine vergleichsweise blasse Assistentin und Mutter, während Marc Jubete und Félix Paquet als Wanderer, Gondoliere usw. den seinerzeit ideal besetzten Bubeniceks schon eher nahekommen.

Bei den Gruppentänzer*innen stechen Yaiza Coll und David Rodriguez (den man sich als Tadzio wünschen würde) ins Auge, ebenso Louis Musin aus der Ballettschule des Hamburg Ballett als junger Aschenbach sowie Artem Prokopchuk als Tadzios Freund Jaschu. Wie sich die Hamburger Kompanie in den Ensembles die Seele aus dem Leib tanzt und im „Totentanz“ kurz vor Schluss zu der abgefahrenen Musik von Jethro Tull der Gesellschaft von heute wie in einem Showdown den Spiegel vorhält – Neumeier hat hier seinen Tänzer*innen Masken verordnet, und es ist schon eine groteske Szenerie, die sich da ein Stelldichein gibt. Noch nie waren diese Episoden so zeitgemäß.

Noch nie auch wurde der Klavierpart so einfühlsam und sensibel interpretiert wie jetzt von Sebastian Knauer – die anderen musikalischen Beiträge (Bach, Webern, Wagner) kamen vom Band. Und so bewegte die Aufführung gerade wegen ihrer vielen großartig choreografierten Pas de deux und bestechend komponierten Gruppenszenen, vor allem aber wegen ihrer Totentanz-ähnlichen Bezüge zu heute: niemand weiß, wann das Hamburg Ballett wieder auf der Bühne tanzen und ob die für Anfang Dezember geplante Uraufführung einer neuen Beethoven-Kreation von Neumeier überhaupt gezeigt werden kann. Es ist das Verdienst des Hamburger Ballettintendanten, dass ein Stück wie „Tod in Venedig“ jetzt zu sehen war – er hat sich seit Monaten vehement dafür eingesetzt, dass seine Tänzer*innen wieder zusammen proben und auf die Bühne dürfen. Und so zollte ihm das reduzierte Hamburger Publikum an diesem denkwürdigen letzten Abend mit Standing Ovations zu Recht großen Dank nicht nur für ein bemerkenswertes Stück Tanzkunst, sondern auch für dieses Engagement, das so überwältigend spür- und sichtbar war.
 

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