„Liebesbriefe“ von Mai Hong Lin. Tanz: Yu-Teng Huang

„Liebesbriefe“ von Mai Hong Lin. Tanz: Yu-Teng Huang

Liebesbriefe aus Linz

Online-Premiere der „Liebesbriefe“ von Mei Hong Lin

Getanzt, versandt und zuverlässig zugestellt, direkt nach Hause, auf den Bildschirm. In zehn Eprisoden verstricken und nähern sich die Tänzer*innen, ineinander, zueinander, in Träume und Sehnsüchte.

Linz, 14/03/2021

Gemeinsam mit 13 Tänzerinnen und Tänzern des Tanzensembles am Landestheater Linz hat Tanzdirektorin Mei Hong Lin für die Netzbühne eine Online-Premiere kreiert: „Liebesbriefe“. Zehn Episoden, Szenen, Bilder, Klang- und Raumvisionen ganz unterschiedlicher Art. Lins choreografische Briefe beginnen dort, wo die Sprache aufhört. Sie choreografiert assoziative Annäherungen an Fragen und Sehnsüchte, Hoffnungen und Verzweiflungen, Irrungen und Wirrungen, Versuche der Flucht oder des Rückzuges in diesen Zeiten einer „Jahrhundertkrise“, der Pandemie.

Wie Menschen hinter Formen verschwinden, wie sie zu Abbildern werden, die in ihnen vorgegebenen Umrissen verschwinden bis zur Auflösung, machen Bühne und Kostüme von Dirk Hochacker immer wieder spürbar und schmerzlich sichtbar. Wie aufgezogen behaupten sich in Episode 1 die Körper der Tänzerinnen und Tänzer in kurzen Momenten der Freiheit, in denen sie sich aus den Vorgaben ihrer Silhouetten zu lösen vermögen. Auch wenn sich ein Tänzer sogar mit der Kunst des Schattenboxens in den Widerstand begibt, ist die Flucht unmöglich. Mit den großen Scan Icons auf den Rücken ihrer Kostüme sind sie gezeichnet, registriert, aufzufinden, einzuordnen. Und wenn sie dennoch, vor allem Kraft des Tanzes, sich von diesen Vorgaben zu lösen vermögen, dann müssen sie mit Verstrickungen zurecht kommen. Zunächst ganz direkt, eingeknüpft in dicken Seilen, eingeschränkt in der tänzerischen Bewegungsfreiheit. Dann aber doch Variationen getanzter Verknüpfungen untereinander, die sogar in kurzen Momenten von Intimität und Nähe schon fast wieder bewegte Momente des Ungebundenseins sichtbar werden lassen.

In der dritten Episode sind die Tänzerinnen und Tänzer in Kartons verpackt. Sogar in dieser Verpackung gelingen Kraft ihrer Erkundungen bislang unbekannter Bewegungsfreiheiten in engstem Raum Momente aufblitzender Freiheit. Begrenzungen lassen sich durchbrechen, wo, wenn nicht im Tanz. Und noch eins drauf, was als Karton zum Gefängnis der Körper wird, wird im Tanz zum eckigen Spielball. In einem Duett der Nähe dann, befreit von allem Verpackungsmüll, kann man die Kraft der Hoffnung spüren, dass es sogar möglich ist, auch in solchen Situationen an der Last der Anderen mitzutragen.

Natürlich dürfen hier auch Varianten des Abstandes nicht fehlen. Gute Anlässe für die Körpersprache des Tanzes, mögliche oder besser verborgene Chancen der Nähe bei größtem Abstand zu erkunden. Im Tanz senden die Körper Zeichen, andere nehmen sie auf, geben sie weiter, so wird regelrecht mitteilender getanzt obwohl man rein körperlich ganz und gar nicht zueinander kommt.

Wie tanzt man „Fake News“? Grotesk, wie sonst. Clownesk, schrill, übertrieben, mit Gasmaske beim Horten von Klopapier. Und was folgt aus diesen Phrasen militanter Sauberkeit und Reinigungsritualen? Ganz sicher natürlich weitere Fake News: Alles Fake oder was, Episode fünf, genau in der Mitte, das grelle Satyrspiel, an der Grenze zwischen Tanz und performativem Übermut nährt sich nicht zuletzt aus dem weiten Repertoire der Improvisationen.

Dann ruft die Natur: Zirpen, Zwitschern, ist das echt? Oder sind das lediglich Wunschtöne, welche nur die Tänzerin vernimmt bei ihrem besinnlichen Solo, mit dem sie eine Zäsur setzt und auch mit der Weite ihrer geschmeidigen Bewegungen das Fernweh, dem sich die nächste Episode widmet, sichtbar und spürbar werden lässt. Szene sieben dann, voller Ironie und Witz und schrillem Tanz. Aufgedonnerte Stewardessen bitten darum, die Gurte anzulegen. Es geht nämlich ab, steil in die Höhe, dahin wo die schönsten Meereswogen schlagen und die goldenen Strände auf uns warten. Und wie hier die Tänzerinnen mit supergroßem Augenzwinkern und ironischer Tanzkraft auf festem Boden, aber so, als würden sie soeben abheben, sich einen Spaß mit dem nicht einzulösenden Fernweh auf den Tanzboden legen, das genießt man gern als verordnete Pille aus dem Fundus humoristischer Heilmittel.

Und dann, ab geht’s, mit Pille und Fantasie: Alles online oder was? Die Episoden acht und neun sind saftige Hingucker. Die körperliche Kraft und Biegsamkeit der Tänzer macht´s möglich: Surfen auf dem Handy. Kräftige Badeboys am Onlinestrand, wenn das nicht ein Anlass zu Tanzen ist. Ist es. Und die Tänzer der Linzer Kompanie geben da Vollgas. Hier feiern der Spaß und die blanke Ironie tänzerische Triumphe surfender Manneskraft. Smartphones werden zu Surfbrettern, die Tänzer brettern in sportlicher Eleganz über hochschäumende Onlinewellen ihrer Fantasien, denen man sich auch am Bildschirm nicht entziehen möchte.

Und dann, Abschied. Einsam, letzte Episode. Auf dem letzten Weg, allein. Ein Tänzer, gehüllt in Fetzen aus durchsichtiger Plaste, darauf leere Wasserflaschen. Nicht mal mehr Proviant auf der Reise ins Jenseits. Es gibt dann zarte Abschiedssoli, wieder hin zu den Umrissen, aus denen man sich zu Beginn befreit hatte. Jetzt sind sie zu Toren der Zuflucht geworden. Die Vision, dass sich die Menschen hinter diesen Toren wieder treffen werden, dass der Tanz weitergehen wird, bezieht ihre Kraft nicht zuletzt aus den insgesamt hoffnungsvollen Visionen vorangegangener Kapitel dieser Liebesbriefe.

Sofern die Kostüme nicht Schuhe verlangen, wird auf blanker Sohle getanzt, Wackler sind nicht zu vermeiden. Aber auch dramaturgische Stringenz und abwägendes Zeitgefühl bleiben schon mal wackelnd auf der Strecke. Mitunter wird die Kraft der Abstraktion auch unterschätzt und allzu realistische Motive vereinfachen das Anliegen, mittels der Kunst auf die Erfahrungen der Alltagsrealitäten zu reagieren, ohne sie abzubilden.

Und dennoch: die insgesamt immer wieder spürbare große Emotionalität dieser Mitteilungen als Grundlage performativer Tanzproduktion trägt insgesamt, auch wenn der Wille zur Mitteilung schon mal pure Abbildungen zur Kunst erhebt. Denn Liebesbriefe folgen eben nicht der Logik. Sie folgen der Emotion. Sie überwinden Abstände und können für Augenblicke, bei größter Entfernung, das Empfinden wahrer Nähe möglich machen.

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