Marco Goecke
Marco Goecke

Für die Ewigkeit

NDT 2: „Souls made apparent“ im Stream

„Souls made apparent“ als Online-Stream. Neben einer Uraufführung des Associate Choreografen Marco Goecke präsentieren die jungen Tänzer des NDT 27'52'' von Jiří Kylián.

Den Haag, 24/03/2021

27 Minuten und 52 Sekunden dauert das Stück von Jirí Kylián, und auch Marco Goecke braucht für seine Uraufführung nicht viel mehr: keine großen Choreografien, was ihre Länge anbelangt, und dennoch Werke, von denen man ohne Übertreibung sagen möchte: für die Ewigkeit. Bei aller Unterschiedlichkeit sind beide aus dem Stoff, aus dem das Leben ist, und gerade seine Begrenzung spielt darin eine alles entscheidende Rolle.

Der einstige NDT-Chef signalisiert schon im Titel „27’ 52’’“ die Zeit, die seiner Arbeit gegeben ist und erinnert mit der Zahlenkombination zugleich an den Geburtstag seines Widmungsträgers Gerald Tipps, der das Nederlands Dans Theater 2 viele Jahr über geleitet hat. Das selbe Ensemble tanzt auch diesmal bei der Online-Premiere des jüngsten NDT-Programms „Souls made apparent“ die Kreation aus dem Jahr 2002, und man ahnt selbst beim flüchtigsten Beschauen, was den Choreografen hier wie in vielen anderen Arbeiten im Innersten bewegt: nämlich der Umstand, dass letztlich alles vergänglich ist, das Leben, die Lust, die Liebe, eben alles. Immer wieder versucht jemand etwas festzuhalten, und sei’s nur das Bühnenportal, das gleich zu Anfang alles zu erschlagen droht. Immer wieder schaut jemand unter den Teppich, als könnte er so festen Boden unter seinen Füßen gewinnen. Immer wieder relativieren die Tänzer*innen ihr Dasein, indem sie die Worte von Guillaume Depardieu, Charles Baudelaire, Bruce Lee und des Dalai Lama vor- und zurücklaufen lassen, als handelte es sich um das letzte Band.

Es ist ein gedanken- und gefühlsschweres Stück. Kylián hat es vielschichtig choreografiert, ohne ihm deswegen seine Unmittelbarkeit zu nehmen. Es ist ebenso tänzerisch wie theatralisch, und Mikaela Kelly, Charlie Skuy und all die anderen interpretieren es mit der Vehemenz, aber auch mit der Unschuld, wie sie so nur der Jugend zu Gebote steht, die noch nicht so um die Endlichkeit weiß.

Davon profitiert auf erschütternde Weise auch „The Big Crying“ von Hauschoreograf Marco Goecke. Seine Dramaturgin Nadja Kadel nennt es in einer Programmnotiz sein persönlichstes Stück, und sie hat recht, auch wenn fast alle Goecke-Kreationen stets sehr persönlich sind. Das Flamme, das hoch oben auf der Bühne lodert, Jesse Caellaert, der mit dem Rücken zum Publikum steht, die Klangkulisse, die einen an ein Feuer im Ofen erinnert: all das stimmt einen ein auf eine Abschiedsszene, die etwas beängstigendes hat. Immer wieder tritt jemand aus dem Dunkel hervor, um dem Anwesenden seine Anteilnahme zu beweisen. Eine scheinbar endlose Reihe, die Erinnerungen an ein Leben weckt, das für immer vergangen ist.

„Death Lullaby“ heißt ein Lied, das Goecke seiner Totenfeier anfangs zugrunde legt, „Blood Roses“ ein anderes, „Losing my Religion“ ein letztes: alles Musikstücke, die wenig Freudvolles haben, sondern zu der Stimmung passen, die Udo Haberland ingeniös eingeleuchtet hat. Weit davon entfernt, etwas erzählen zu wollen, schafft Goecke auf seine fieberhafte, flatternde Art eine schmerzhafte Atmosphäre, die einem den Atem nimmt. Dabei lässt Goecke viel Deutungsraum, wenn sich ein Tänzer immer wieder an die Gurgel fasst, wenn eine Tänzerin ihren Schmerz aus sich herausschreit. Zeitweilig kann das Stück sogar komisch sein, vor allem in seinen grandiosen Gruppenszenen. Aber wenn jemand lacht, dann aus Verzweiflung. „Bells ,For Her’“ nennt sich eine Komposition, und wie Engel wirkt auf einmal Mikaela Kelly, die ihren Partner immer wieder umarmt. Ein letztes Mal die Szene mit Jesse Callaert, von dem sich alle verabschieden. Zum Schluss fällt er auf die Knie und und tanzt breitbeinig ein Solo, als handelte es sich dabei um den Gesang eines Jünglings im Feuerofen.

„Souls made apparent“ nennt sich der Doppelabend. Er hat nicht zu viel versprochen.

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