Martin Schläpfer "Sinfonie Nr. 15": Herrenensemble

"Sinfonie Nr. 15" von Martin Schläpfer. Tanz: Herrenensemble

Gipfeltreffen

Livestream des Triple Bills „Tänze Bilder Sinfonien“ beim Wiener Staatsballett

Triumphaler Auftakt zur neuen Spielzeit: Der aktuelle Ballettabend beim Wiener Staatsballett vereint ein „Who‘s who“ an Künstler*innen mit George Balanchines „Symphony in Three Movements“, Alexei Ratmanskys „Pictures at an Exhibition“ sowie Martin Schläpfers „Sinfonie Nr. 15“.

Wien, 25/09/2021

Mit einem Paukenschlag von einer Premiere hatte sich das Wiener Staatsballett in die Spielzeitpause verabschiedet. Mit einer aktuellen Aufführungsserie gelangt „Tänze Bilder Sinfonien“ nun ins Repertoire der Kompanie. Am Dienstagabend wurde die parallele Vorstellung als Livestream gezeigt. Schlicht erscheint der Titel des Dreiteilers, viel steckt dahinter: Balanchine trifft auf Strawinsky, Ratmansky auf Mussorgski, Schläpfer auf Schostakowitsch. Ein „Who’s who“ der Ballett- und Musikwelt gibt sich ein Stelldichein, die danse d’école mit ihren facettenreichen neoklassischen bis zeitgenössischen Ausformulierungen begegnet großer „russischer Seele“. Viel hat sich der Tanzabend, der ungewöhnlich intensiv mental und intellektuell fordert, vorgenommen: Zwei sinfonische Ballette und die choreografische Interpretation eines Signaturstücks Mussorgskis hat es im Handgepäck. „Tänze Bilder Sinfonien“ ist ein großer Wurf – eine Produktion die aufwühlt und unter die Haut geht.

Bereits das erste Stück „Symphony in Three Movements“ zur gleichnamigen Komposition Strawinskys ist nur scheinbar typisch Balanchine: Ein vornehmlich schwarz-weiß gehaltenes Trikotballett vor leerer Bühne, welches den Fokus auf die physische Ideal-Erscheinung der Tänzer*innen richtet. Kreiert wird ein choreografisch-architektonisches Meisterwerk, das die hochkomplexe Struktur der musikalisch-rhythmischen Komposition (souverän am Pult Robert Reimer) in virtuose Bewegung übersetzt: „Dance is making music visible“. Wobei sich – Markenzeichen Balanchines – das brillant Erstklassige nonchalant den Anschein reiner Trainings-Ästhetik gibt. Keine tiefere Aussage ist nötig, vollendete Schönheit in Tanz und Musik waren Balanchine stets Aussage genug. Doch so unbekümmert dies Werk wirkt, „leichtfüßig“ sind nur die Tänzer*innen. Ohne die Abstraktion zu verlassen, verarbeitet der Choreograf hier den Verlust vom Weggefährten Strawinsky. Für das mit dem New York City Ballett 1972 uraufgeführte Werk griff Balanchine auf dessen zwischen 1942-1945 entstandene Komposition zurück, welche dieser – ohne programmatisch oder politisch zu sein – als „War Symphony“ bezeichnete. Vor dem Hintergrund mag man bei den mit apollinischer Strenge in einer Diagonale aufgereihten 16 Tänzer*innen an Soldat*innen in Reih und Glied denken – eine Assoziation, die von lässigen Ponytails gestört wird. Zu harschen Klängen suggerierter Märsche finden sich elegant-athletische Tänzer*innen zu anspruchsvollen Raumformationen zusammen, das Bewegungsmaterial kombiniert virtuose Ballettklassik mit Jazz Dance-Steps und Alltagsbewegungen: Joggen am Platz wechselt sich mit hochgeschnellten Battements à la seconde, bedrohlich geworfenen Arabesquen oder gestochen-scharfen Echappés ab, stechschrittartige Promenaden en pointé kontrastieren mit Polonaisen in „Dornröschen“-Manier. Ergänzt wird die weißbekleidete „ballet is woman“-Truppe u. a. von drei Solistinnen in Pinktönen sowie acht tanztechnisch extrem präsenten männlichen Tänzern.

Von anderer Klangfarbe ist der zentrale Adagio-Satz, in dem die zackig-rhythmischen Töne dem lyrisch-weichen Sound der Harfe weichen: Doch auch innerhalb dieses meditativ-kontemplativen Pas de deux (Liudmila Konovalova und Masayu Kimoto) tut sich keine Zweisamkeit auf. Die rechteckig abgewinkelten Arme negieren Umarmungen und erwecken den Eindruck von Distanz. Der dritte Satz gehört erneut dem Ensemble und gipfelt in einem Schlusstableau, in welchem die an beiden Seiten die Bühne umrahmenden Tänzer*innen einen furiosen Arm-Kanon – gleich mechanischer Spielzeugfiguren – ausführen, der Vorbild für William Forsythes „Artifact“ gewesen sein mag. Ein halbes Jahrhundert ist Balanchines Werk nun alt – angestaubt ist es aufgrund seines Drives und seiner Vitalität keineswegs.

Mit „Pictures at an Exhibtion“ konnte Schläpfer erstmals Starchoreograf Ratmansky für das Wiener Staatsballett gewinnen und sich zugleich die europäische Erstaufführung des 2014 ebenfalls mit dem NYCB uraufgeführten Werks sichern. Für seine Interpretation von Mussorgskis Klavierzyklus wählte Ratmansky die Originalfassung von 1874 sowie eine Besetzung von zehn Tänzer*innen. Ragt „Pictures at an Exhibition“ als optimistischer Farbtupfer des Ballettabends heraus, so hat auch dieser Choreograf mit allen Schattierungen des Lebens gemalt. Denn Mussorgskis wehmütige Komposition stellt ebenso eine Hommage an einen verstorbenen Freund, Maler Viktor Hartmann, dar. Als Inspirationsquelle für seine eigene Interpretation griff Ratmansky auf die Farbstudie „Quadrate und konzentrische Ringe“ des Synästhetikers Wassily Kandinsky zurück, welche im Design Wendall K. Harringtons auf die Bühnenrückwand projiziert wird und sich in den Mustern der Kostüme (Adeline André) wiederfindet.

Ratmansky, der sich in seiner Bewegungssprache an den Prinzipien des klassischen Tanzes orientiert, ist weniger an einer Transformation musikalischer Struktur als an der ihr innewohnenden Gefühlswelt interessiert, was zu teils radikalen Neudeutungen führt: Etwa, wenn in „Der Gnom“ die boshafte Kreatur auf eine Ballerina (Ketevan Papava) übertragen wird, die mit ihren eigenen scharf-kantigen Bewegungen, gestochenen Piqués und abgespreizten Fingern deren zerrissenes Inneres darstellt. Oder wenn in „Die Hütte der Baba Jaga“ ein männlicher Tänzer (Francesco Costa) zur Inkarnation der Magierin wird und mit kraftvoll wuchtigen Bewegungen und aggressiv-potenten Manège-Sprüngen überzeugt. Nachdenkliche Töne finden sich im elegischen Pas de deux Claudine Schochs und Marcos Menhas, in dem motivartig wiederholende Ellipsen-Arme mit vertrackten Fisch-Hebungen und hinabstürzenden Arabesquen korrespondieren. Berührend ist schließlich das hochexpressive Duett zwischen Aleksandra Liashenko und Roman Lazik, bei dem man mit Jiři Kylián sagen möchte: „The weight of experience makes the weight they make on the stage“. Gemeinsam erzittert das Paar vor den dunklen Momenten des Lebens und sucht am Boden kniend nach dem Sinn des Daseins selbst?

Abstraktion in der Handlung und Menschen mit all ihren individuellen Konflikten stellen bei Ratmansky keinen Widerspruch dar, sondern werden wie selbstverständlich miteinander in Einklang gebracht. Großer anschließender Applaus gilt den Tänzer*innen sowie der grandios feinnuancierten Pianistin Alina Bercu, die dank ihrer Klangwut die pompöse Ravel-Orchestrierung nahezu vergessen lässt.

Musikalischer wie choreografischer Höhepunkt ist Schläpfers Uraufführung „Sinfonie Nr. 15“ zu voller orchestraler Besetzung. Dass dessen Choreografie der Übermacht der Komposition mittels kongenialer Synthese aus Tanz und Musik auf Augenhöhe begegnet, ist die größte Leistung des Abends. Eine weitere, dass Schläpfer sein rund hundertköpfiges Ensemble nahezu vollständig auf die Bühne bringt.

Für seine düster-melancholische und schwer wie Blei wiegende Choreografie hat der Ballettchef Schostakowitschs Sinfonie Nr. 15 in A-Dur gewählt: Diese gilt als Kaleidoskop seines künstlerischem Daseins und wurde mit 1972 im selben Jahr uraufgeführt wie Balanchines „Symphony in Three Movements“. Die an Zitaten eigener und fremder Werke – Rossinis und Wagners – reiche Sinfonie wirft einen schonungslosen Rückblick auf das am Ende angelangte Leben des 66-jährigen Komponisten, das von nagender Angst, Terror und Diktatur überschattet war. Jahrelang zitterte Schostakowitsch vor den Todeskommandos Stalins und war in die seelische Gefangenschaft getrieben.

Mit seinem tiefschwarzen Hintergrund – Abgrund – mit vereinzelten hellen Sprenkeln und Bodenstreifen gleich eines Spielbretts, führt Kostüm- und Bühnenbildner Thomas Ziegler in der aktuellen Staatsballett-Produktion die Apokalypse bildlich vor Augen. Die Tänzer*innen ihrerseits stehen mit schwarz-grün schimmernden Korsagen und Beinkleidern für eine Hot-Couture-Ästhetik ein.

Auch das dritte Stück des Abends bleibt mit seinem Bewegungsvokabular der Klassik verpflichtet, bereichert diese jedoch um athletisch-akrobatische Körperlichkeit und geballte Expressivität, welche die Tänzer*innen nicht als Kunstfiguren, sondern als Menschen in ihrer Ganzheit in den Fokus stellen.

Gleich zu Beginn treten zwei Männer aus dem Dunkeln, die mit präzis simultanen Sprüngen und flinkem Laufen auf Fußspitzen ebenso bestechen, wie ein sich anschließendes virtuoses Männer-Trio, welches vor Körperlichkeit zu zerbersten scheint: Nackte Oberkörper, kraftvolle Männer, ein fesselndes Trio entspinnt sich – fulminant, energetisch, raumgreifend und unverhohlen erotisch. Tänzerinnen reagieren ihrerseits wie elektrisiert auf musikalische Impulse: Ein Zittern geht durch den ganzen Leib – selbst durch den Spitzenschuh, als dessen künstliche Verlängerung.

Aus der Dunkelheit heraus wird eine Frau getragen – sie berührt ihren Partner, der wirft sie, einer Fesselung gleich, um sich herum, aus geschlossener Beinhaltung öffnet die Tänzerin weite Développés. Zwischenmenschliche Berührungs- und Verletzungsmöglichkeiten in all ihren Variationen werden offeriert: Brutale Hebungen am Hals, magnetisch zueinanderfindende Körper, rohe Zärtlichkeit.

Beklemmende Bilder sind es, die Schläpfer entwickelt, wobei er die Frau nicht unbedingt in der Opferrolle lässt: Auf Rohheit reagiert sie ihrerseits mit Ziehen der Brust des Mannes, mit Packen seiner Haare. Es sind masochistische Bilder des Quälens und Kräftemessens, die das Publikum nahezu physisch erlebt – Schmerzen multipliziert. Das Innerste der musikalischen Komposition wird vom Choreografen schonungslos analysiert, enthüllt und zur Kenntlichkeit entstellt: Ein kollektiver Miniaturmarsch wird über die Bühne geschickt – Tänzer*innen gleich Kriegsgefangenen vollführen mit durchgeknickten Knien Liliputschritte, als hätte man ihre Glieder gebrochen und mit Stricken verbunden. Ein Bild trostloser Einsamkeit tut sich auf, als auf der leeren Bühne ein einzelner Koffer zurückbleibt, auf den sich ein Mann setzt, die Augen vors Gesicht haltend: Eine Referenz an den Komponisten, der jahrelang angezogen und mit kleinem Koffer unter dem Bett geschlafen hatte, jederzeit bereit für den möglichen Abtransport? Männer tragen Frauen mit weit gespreizten Beinen, zurückgeworfenem Torso und geflexten Füßen von der Bühne, als gebären sie den Schmerz der Welt.

Zärtliche Gesten vergehen so schnell, wie sie gekommen sind, Momente der Umarmung erinnern an ein Festklammern vor dem Ertrinken. Der Tod ist unausweichlich: „Muss es sein? Es muss sein!“ Schauerlich-grandioser Höhepunkt ist das den Abend beschließende Männersolo, in dem das akustische Knochenklappern in virtuoser Bewegung visualisiert wird. Einen Moment lang hat dies etwas Komisch-Slapstickartiges, doch dann wird das Gesicht zur schmerzerfüllten Grimasse verzerrt. Es folgt ein Verharren im schier unendlich langen Handstand – der letzte Atemzug, die Totenstarre? – und dann, von Angesicht zu Angesicht mit Gevatter selbst, ist man des Todes gegenwärtig, der Vorhang fällt. Ein Epilog des Tanzes – ein Schwanengesang ist „Sinfonie Nr. 15“ und Schostakowitsch würdig.

Ein vielschichtiger Ballettabend mit unzähligen emotionalen Nuancen lässt das Publikum aufgewühlt und erschüttert zurück. „Jeder Tanzabend gehört auch der Musik“ – heißt es bei Martin Schläpfer. Man könnte entgegnen: Große Musik verlangt nach großartiger Choreografie – beides gibt es hier im Überfluss. Ohne Frage, mit „Tänze Bilder Sinfonien“ ist das Wiener Staatsballett um ein weiteres Repertoire-Juwel reicher. Eines, das dessen Versiertheit im klassischen und zeitgenössischen Tanz belegt, und auch Wiens stolzes Erbe – als Weltstadt der Musik – bekräftigt und abermals rechtfertigt.

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