"Sand"

"Sand" von Georg Reischl

Tanz auf schwankendem Grund

Georg Reischls neue Choreografie „Sand“ findet triumphalen Anklang am Theater Regensburg

Tanz wird üblicherweise nicht mit Sand assoziiert, sind doch Schritte, Sprünge und locker-elegante Bewegungen auf Sand mit Unsicherheit, Nachgeben und Wegrutschen verbunden.

Regensburg, 20/10/2021

Auf Sand gebaut sind der Glaube an immer währendes Wachstum, manch politische oder wirtschaftliche Versprechungen, ganz konkret aber auch Millionen von Häusern einer verstädterten Welt. Für viele Menschen bedeutet Sand zudem Urlaub, Meer, Freizeit und Freiheit.

Vielleicht war das mit ein Grund für den Chefchoreografen des Regensburger Theaters, Georg Reischl, seine Profis in das Abenteuer „Sand“ zu schicken. Das neue Stück des Österreichers feierte nach einer geradezu trotzig gefeierten Uraufführung im vergangenen Spätherbst – unmittelbar vor dem langen, zermürbenden Lockdown – jetzt eine zweite Premiere vor voll besetzten Rängen. In einem Interview verweist Reischl auf die Verbindung von „Natur auf der Bühne“, die ihn gereizt habe. Unter dem Eindruck der Pandemie lässt er aber auch eine metaphysische Interpretation gelten: „Die Bühne mit ihrem unebenen Sandboden, der sich durch die Bewegungen verändert, hat so viel mit dieser Form von Anpassung an unsere neuen Bedingungen zu tun.“

Ähnlich offen wie die Bewegungen der Tanzenden, die oft zwischen Groteske und wie auf Eiern gehend lavieren, ist auch die einer Wüstenei ähnelnde Bühne von Michael Lindner. Rund zehn Tonnen Sand bilden den schwankenden Untergrund über und durch den sich die Tänzer voll spürbarer Leidenschaft in knappen Sprüngen, tastend oder wankend bewegen. Im Hintergrund Felsbrocken und Felsformationen, über welche die Tänzer in sportlich-synthetischer Funktionskleidung mit exaltierten Mustern geklettert, gejumpt, gekrochen kommen. Zwischendurch suchen sie dort auch Schutz, verschmelzen mit den Felsformen, beobachten scheinbar unberührt, wie ein Paar in fast perfekter Synchronizität eine waghalsige Dynamik entwickelt.

Anfänglich scheint alles eitel Sonnenschein. Zu minimalistisch inspiriertem Sound von Nils Frahm streckt und reckt sich nicht immer synchron ein Paar. Dabei wird Alessio Burani manchmal vom Neuzugang Elisabet Morera Nadal, die einerseits enorm präzise und gleichzeitig von einer stürmischen Hingabe beseelt ist, um Halbsekunden überholt. Nadal hat einen Teil der Tanzrolle von Louisa Poletti übernommen, die verletzungsbedingt aus-gefallen ist. Auch anderen Partnern läuft Nadal in spannenden Pas de deux oft ein wenig davon. Am überzeugendsten als Paar wirken an diesem Premierenabend Rei Okunishi und Lucas Roque Machado, die wie eine kraftvolle und dabei fließende Einheit harmonieren. Als Solist zieht Bartlomiej Kowalczyk das Publikum fühlbar in Bann.

Bilder einer weißglühenden Sonne, die in mehreren schräg im aufgeschütteten Sand steckenden Fernsehern flimmert, eröffnen weitere Assoziationsspielräume und werden durch Buranis Ansage „I want you to panic!“ verstärkt. Das Greta-Thunberg-Zitat erscheint bei einem solch mehrdeutigen Thema ein wenig holzhammerartig und engt die sicher dringend notwendige Auseinandersetzung möglicherweise unnötig ein. Zwingend notwendig er-scheint es nicht.

Später ziehen Wolken durch die Guckfenster zur Welt, ein Auge blickt in extremer Close-up-Aufnahme aufs Geschehen und übers maskentragende Publikum, dessen wache Aufmerksamkeit Freude über das Ende der langen Kulturwüstenei ausstrahlt. Derweil sonnen sich die Tanzenden, andere posieren, wanken Arme rudernd von Felsbrocken zu Felsbrocken. Im Sand sitzend rieselt einigen der Sand – die Zeit – buchstäblich durch die Finger und verweist darauf, dass unsere Zeit, den Klimawandel aufzuhalten, abläuft. Immer mehr Risse zeigen sich in der Oberfläche des schönen Scheins – der Boden unter den Füssen wird zu heiß.

Unvermittelt rufen Tanzende andere Tänzer bei deren Namen, die gleichzeitig in Versalien über die Bildschirme flimmern. Sind sie abgestürzt? Verdurstet? In der Hitze umgekommen? Es bleibt ein Rätsel. Oben auf dem Fels würgt ein mit Konsummüll Vergifteter unverständliche Worte wie Erbrochenes hervor. Unten wuchtet ein Tänzer grotesk schwankend einen Felsbrocken durch ein Feld mit Blumen, die in aufgestellten Flaschen stecken. Andere rühren keinen Finger, aber kommentieren. Ein wenig optimistisches, dennoch mehrdeutiges Bild, das offenzulegen scheint: Letztlich bewegen wir uns alle auf schwankendem Grund.

Nach der Vorstellung begrüßt Georg Reischl sichtlich nervös und ergriffen die Besucher: „Mein liebes Publikum – wir sind wieder da!“ Künstler*innen bräuchten so etwas wie Normalität, um „es gemeinsam mit Ihnen teilen zu können“. Mit bebender Stimme dankte er seinem „tollen Team“, welches er der Reihe nach vorstellte und wandte sich ans begeistert trampelnde Publikum: „Es fühlt sich toll an!“

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