Die unvergleichliche Pariser Manon

„Manon“ mit Aurélie Dupont und Josua Hoffalt im Palais Garnier

Paris, 27/04/2012

Beinahe zehn Jahre ist es nun her, dass das Ballett der Pariser Oper das letzte Mal Kenneth MacMillans „Manon“ tanzte. Seither sind zwei wichtige dramatische Handlungsballette des 20. Jahrhunderts in das Repertoire der Opéra eingegangen, John Neumeiers „Kameliendame“ und John Crankos „Onegin“. Die Tänzer scheinen durch diese Repertoireerweiterung an Ausdruckskraft und schauspielerischer Gewandtheit gewonnen zu haben und kehren nun mit großem Elan zu „Manon“ zurück.

Der Enthusiasmus, mit dem sich das Corps de Ballet in das Stück wirft, liegt unter anderem an den sehr diversifizierten Nebenrollen: Fast jeder Tänzer kann etwas von sich selbst in seinen Charakter einbringen und sich als listiger Akteur im Kampf ums Überleben im Paris des frühen 18. Jahrhunderts profilieren. Diese zahlreichen kleinen Sittenportraits, die dem Pinsel eines Hogarth entsprungen sein könnten, fügen sich zu einem sehr lebendigen Bild der dekadenten und käuflichen Gesellschaft zusammen, die MacMillan in seinem Ballett portraitiert. Während in den ersten beiden Akten Raub und Gewalt, Prostitution und Misere noch mit einem leicht ironischen Blick betrachtet werden – die lebensfrohen und flinken Armen äffen entweder verächtlich die affektierten Reichen nach, bestehlen und betrügen sie oder stolzieren durch Verkauf ihrer Schönheit wie Fürstinnen geschmückt durch die Straßen –, zeigt der letzte Akt die Verzweiflung und Ausweglosigkeit, die Ausbeutung und die Brutalität der Mächtigen in einem unerbittlicheren Licht. Kaum ein Choreograf von Handlungsballetten im 20. Jahrhundert hat das innere Zerbrechen seiner Charaktere so realistisch und aufrüttelnd dargestellt wie Kenneth MacMillan, von „The invitation“ bis „The Judas Tree“. In MacMillans Werken sucht man meist vergeblich nach glücklich endenden Liebesgeschichten, und die Lumpen, die in Nicholas Georgiadis’ opulentem Bühnenbild allgegenwärtig sind, lassen von Anfang an die Abgründe erahnen, in die die Protagonisten schließlich stürzen werden.

Neben der Massenet-Musik, die im letzten Jahr von Martin Yates neu orchestriert und um ein Stück erweitert wurde (Dirigent: Koen Kessels), haben sich seit der letzten Wiederaufnahme auch die Besetzungen der Hauptrollen fast vollkommen geändert. Mit großer Spannung erwartete man die Kombination Aurélie Dupont und Josua Hoffalt, neues Traumpaar der Pariser Oper seit Hoffalts Nominierung in „La Bayadère“ vor einigen Wochen (siehe auch hier). Hoffalt fühlt sich in MacMillans Werk deutlich wohler als in der Nurejew-Klassik und bietet trotz einiger Unsicherheiten im ersten Akt eine Interpretation von hoher Qualität. Nach einem nicht ganz gelungenen Eingangssolo findet er sich im Lauf des Balletts immer mehr in seine Rolle hinein. Die Tiefe seiner idealistischen Liebe wird bereits im Bett-Pas de deux offensichtlich, in dem er regelrecht befreit aufblüht und vor keiner noch so gewagten Hebung zurückschreckt, um dann im zweiten Akt all seine Ideale zertrümmert zu sehen, ohne sich jedoch von der faszinierenden Manon abwenden zu können. Im dritten Akt zeigt er sich schließlich als hingebungsvoller Beschützer, der beinahe den Verstand zu verlieren scheint, als er sich seines Lebensinhaltes beraubt sieht.

Die magnetische Wirkung, die Manon auf die gesamte Männerwelt ausübt, bedarf keiner weiteren Erklärung, wenn die Rolle von Aurélie Dupont interpretiert wird. Von ihrem ersten Auftritt an sind alle Augen auf sie gerichtet, und nur ihr Bruder Lescaut (Jérémie Bélingard), ebenfalls eine sehr starke Persönlichkeit, scheint ihr irgendwie gewachsen zu sein. Tatsächlich wirkt ihre Beziehung zu Lescaut, mit dem sie sich ohne Worte versteht, überzeugender als die zu dem etwas charakterschwachen Des Grieux, der schließlich von den Halbweltintrigen zermalmt wird.

Aurélie Duponts Manon ist kein Unschuldsengel, sondern sie spielt von Anfang an mit den Männern. Zunächst ist sie vage amüsiert über deren extravagantes Benehmen, bis ihr ihre ehrliche Liebe zu Des Grieux die Geheimnisse der Leidenschaft eröffnet. Dieses Wissen wendet sie, angezogen von reichen Stoffen und Juwelen, sogleich auf Monsieur GM (Aurélien Houette) an, den sie in einem an den Schwarzen Schwan erinnernden Pas de trois mit Lescaut-Rotbart nach allen Regeln der Kunst verführt. Zwar wirkt die sehr enge Beziehung zwischen Manon und ihrem ruchlosen Bruder von Anfang an ein zweifelhaftes Licht auf Manons Charakter, doch bricht immer wieder ihr argloser Charme hervor, der zeigt, dass sie nur den Umständen zum Opfer fällt, die ihr nicht den Platz als Königin der feinen Gesellschaft zugestehen, für den sie geschaffen scheint.

Im zweiten Akt scheint die strahlende Dupont, die in Seen lüsterner Männer taucht, jedem einzelnen tief in die Augen sieht und schließlich triumphierend über der ganzen Halbwelt schwebt, zwar völlig in ihrem Spiel aufzugehen, doch ruht ihr Blick, wenn GM brutal den Kreis ihrer Verehrer auflöst, zweifelnd auf Des Grieux. Diese übermütige, vor Sinnlichkeit sprühende Manon will einfach alles, da ihr alles von Natur aus zuzustehen scheint. Schließlich scheitert sie aber an der Rache GMs, der ob seiner Wut darüber, seine bezahlte Ware nicht nach seinen Vorstellungen genießen zu können, schnell vergisst, welche entscheidende Rolle er selbst in Manons moralischem Niedergang gespielt hat. Technisch ist Aurélie Duponts Manon kaum zu übertreffen und man kann nur bewundern, wie sie jedes Detail – ein herrlich weiches Cambré, durch das sie bei einer Pirouette in Des Grieux’ Armen die Augen nicht von seinen löst, eine Arabesque penchée, in sie sie hingebungsvoll hinein sinkt, ein kaum merkliches Zittern ihrer Füße – mit Sinn und Intention erfüllt und dabei ihrem Tanz eine Qualität verleiht, der ihn zur Augenweide machen. Selbst ganz zum Schluss, wenn sie sich wie eine zerbrochene Marionette mit abgeknickten Füßen durch die Lüfte wirbeln und werfen lässt, verliert sie nichts von ihrer Faszination.

Man kann nur gespannt sein, was die vielversprechende Partnerschaft Dupont-Hoffalt weiter bringen wird. Der jüngst ernannte Danseur Etoile wird zwar vielleicht noch eine Weile brauchen, bis er wirklich einen glaubhaften Gegenpol zur kaum erreichbaren Dupont bieten kann, doch gelingt dem Paar auf Anhieb das, worauf es in „Manon“ besonders ankommt: wahrhaft zu wirken und das Publikum tief zu berühren.

Besuchte Vorstellung: 25.04.12

 

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