Nur Mut!

Rollendebuts in der „Kleinen Meerjungfrau“ beim Hamburg Ballett

Hamburg, 12/11/2012

John Neumeier ist dafür bekannt, immer wieder große Rollen in seinen Stücken im Laufe der Spielzeit mit jungen Tänzern zu besetzen. So auch jüngst in der „Kleinen Meerjungfrau“. Florencia Chinellato (26), die zum Ende der vergangenen Spielzeit zur Solistin ernannt wurde, tanzte die Prinzessin, eine Rolle, die Neumeier 2007 für die Hamburger Version des Stücks mit seiner Ersten Solistin Hélène Bouchet erarbeitet hat. Und der erst 21-jährige Gruppentänzer Sasha Riva übernahm den Part des Dichters, den normalerweise Lloyd Riggins oder Ivan Urban, ebenfalls langjährige Erste Solisten und ausgewiesene Charakterdarsteller, tanzen.

Florencia Chinellato stattet die Rolle der Henriette bzw. der Prinzessin mit einer unbekümmerten Jugendlichkeit aus, sie ist ein naives junges Mädchen, das mit dem Prinzen ihr großes Los zieht. Wie immer bei Neumeier haben solche Rollen aber mehr Tiefgang – dieses Mädchen wandelt sich von der Klosterschülerin zur liebenden jungen Frau, sie ist mehr als ein naives Lärvchen im braven Schulkleid, das zum bunten Schmetterling mutiert. Nähert sie sich dem Prinzen anfangs noch mit kindlicher Neugier, wird daraus später eine erotische Verliebtheit, etwas Besitzergreifendes auch. Bei Florencia Chinellato ist das alles nett und gefällig anzuschauen, aber diese Rolle braucht mehr Profil, weniger Oberflächlichkeit. Gerade im zweiten Akt, wo aus Henriette eine Prinzessin wird, sie erringt mit der Hochzeit eine gesellschaftliche Stellung. Hélène Bouchet hat hier mit ihrer sehr speziellen französischen Kapriziertheit hohe Maßstäbe gesetzt, aber ihre Art der Interpretation gilt es nicht zu kopieren – es wäre durchaus spannend zu sehen, welche Mittel und Möglichkeiten die Argentinierin Florencia Chinellato entwickeln kann. Denn das ist ja das Schöne an diesen Neumeier-Charakteren: dass sie Spielraum lassen für Eigenes. Die Anforderung steht aber, dieses Eigene auch wirklich sichtbar zu machen, das Innere nach außen zu kehren.

Das gilt auch für Sasha Riva, der die anspruchsvolle Rolle des Dichters übernommen hat. Er hat da noch spürbar zu viel Respekt vor dieser Aufgabe – er traut sich noch richtig heraus aus der Deckung der Zurückhaltung. Dabei hätte er allemal das Potential, diesem Dichter seinen eigenen Stempel aufzudrücken, hochgewachsen und elegant in der Linie, wie er ist, und mit dieser sehr eigenen Bühnenpräsenz. Mehr Mut, möchte man ihm da nur immer wieder zurufen, mehr Mut zum eigenen Stil, zum eigenen Rollenverständnis. Aber das darf bei einem 21-Jährigen auch noch wachsen – und es wäre vermessen, eine ähnliche Reife zu erwarten, wie ein über 30- oder 40-jähriger erfahrener Tänzer sie zeigen kann. So gebührt Sasha Riva eher Respekt dafür, dass er dem Dichter vorerst noch eine Zurückhaltung auferlegt, die Raum lässt für die Kleine Meerjungfrau selbst und damit für Silvia Azzoni, „the one and only“ in diesem Part. Es ist atemberaubend, was sie aus dieser Rolle macht, wie diese kleine Person die große Bühne füllt mit ihrer Präsenz, ihrer Ausstrahlung, ihrer Tanzkunst und vor allem aber mit ihrem Atem, ihrem Sein. In dieser Rolle reicht ihr keine andere Tänzerin das Wasser, und es ist für ewig schade, dass die Verfilmung des Stücks mit dem San Franzisco Ballet erfolgte und nicht mit der Hamburger Kompanie und Silvia Azzoni in der Hauptrolle.

Bei dieser Gelegenheit sei noch ein Wort zur Musik erlaubt. Seit dem Tod des Dirigenten Klaus-Peter Seibel, der die Uraufführung dirigiert und den Entstehungsprozess des Werkes begleitet hat, hat man die schwierige Komposition von Lera Auerbach von den Philharmonikern kaum noch ordentlich gespielt gehört. So auch am vergangenen Samstag, als Christoph Eberle dirigierte. Er scheiterte kläglich an dieser Aufgabe, und es bleibt ein Rätsel, warum ausgerechnet er für dieses Stück als Dirigent verpflichtet wurde – hat er doch schon an anderer Stelle erkennen lassen, dass er als Dirigent nicht in der Lage ist, Musik und Tanz zu einem Gesamtkunstwerk zusammenzuführen. Bei Lera Auerbach ist er hörbar überfordert, die Philharmoniker laufen ihm ständig aus dem Ruder, was gerade bei den rhythmisch oft sehr schwierigen Passagen der „Kleinen Meerjungfrau“ schwer zu ertragen ist. Hätte sich da nicht der wunderbare Konzertmeister Anton Barakhovsky – eigens aus München angereist – ins Zeug gelegt, um den schwierigen Part der Solovioline zu gestalten und die Streicher anzuführen, wäre die Katastrophe noch größer gewesen. Möge in der nächsten Spielzeit bitte ein anderer Dirigent, der sich der Musik mehr verpflichtet fühlt, für dieses wichtige Neumeier-Werk engagiert werden können.

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