Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
In einer Epoche, in der zeitgenössischer Tanz von unendlich großer Vielfalt ist und vielerorts die Form des klassisch orientierten Balletts verdrängt hat, werden jene Orte, die die danse d’école auf eigene Art weitertreiben, fast wie Rufer in der Wüste erlebt.
Und um einige der Wenigen muss man bereits bangen: Die Zukunft des Balletts der Pariser Oper, unter Brigitte Lefèvre ein Musentempel aus alerter Klugheit, steht ebenso zur Diskussion wie jene des Berliner Staatsballetts. Das Mariinsky-Ballett hat sich immerhin an Sasha Waltz’ „Sacre“-Version herangetastet. Wien macht unter Manuel Legris weit bessere Figur als unter seinem ungarischen Vorgänger.
Allerdings: Die Post geht dort ab, wo eine choreografische Handschrift Tänzer, Repertoire und selbstverständlich das Publikum prägt. Düsseldorf hat nach Martin Schläpfer gegriffen, der in der Tat mit einem erstaunlichen Gespür und exquisiter Einstudierung neben seinem neoklassischen „danse brute“ – beispielhaft das Solo „Ramification“ (Schnittke) – Werke der Ballettgeschichte spielt: Tudor, Ashton, Cunningham neben Auftragswerken von Amanda Miller, Regina van Berkel und anderen. William Forsythe erinnert sich bei allem Experiment immer wieder der danse d’école.
In Hamburg versetzt nun tatsächlich John Neumeier 40 Jahre lang sein Publikum in Euphorie und provoziert allabendlich die berühmten „standing ovations“. Mit auf klassischer Schule fußenden, seinen dramaturgisch stets ausgefeilten, ästhetisch einer etablierten Moderne mit ungemeiner Expressivität verpflichteten Vorstellungen eines schöpferischen Ballett-Kosmos. Und längst nicht nur sein Publikum sondern eine beträchtliche Vielzahl klassischer Ensembles auf der ganzen Welt teilt das breite Interesse an seinem Werkkatalog. Diese außerordentliche Wertschätzung seiner wohl vorwiegend dem Handlungsballett gedankten Arbeit ist im aktuellen, schwer gewichtigen Buch „40 Jahre John Neumeier in Hamburg“, anlässlich der bis noch 30. Juni laufenden 39. Hamburger Ballett-Tage erschienen, nachzulesen.
Auch das Wiener Staatsballett hat eine gemeinsame Geschichte mit John Neumeier vorzuweisen. Und es sind vor allem Werke der Ballets Russes, die der Amerikaner in Wien teils neu fasste. Die „Josephs Legende“ (1977) mit Judith Jamison, Kevin Haigen und Karl Musil bis heute unvergessen; in der letzten Hamburger Neufassung tanzte die Wienerin Patricia Tichy Potiphars Weib, in „Daphnis und Chloe“ und „Der Feuervogel“. Aber auch „Don Juan“, „Sommernachtstraum“, einige Ballettwerkstätten – darunter eine mit Beatrice Cordua als Auserwählter in einem Ausschnitt aus „Le Sacre“. Edel-heutige Choreografien für das Neujahrskonzert, etliche Gastspiele auch in Salzburg und nun seit einigen Jahren eine Kooperation mit Roland Geyer und dem Theater an der Wien. Dort wird im nächsten Jahr „Kameliendame“ gezeigt, aber schon bei der kommenden Nurejew-Gala in der Staatsoper „Vaslaw“.
Eine Sache ist: als Ensemble und Stadt eine Choreografie anvertraut zu bekommen. Die andere: Neumeiers Hamburg Ballett, das im Normalfall die Kreationen herausbringt während der intensiven Ballett-Tage zu beobachten. Das ist Energie auf einem geradezu unheimlichen wirkenden, weil äußerst differenziert zum Einsatz kommenden Intensitätsniveau. Energie im Sinne von wissentlich spezifisch eingesetzter, kontrollierter Gestaltungsgabe, die durch die Solisten transportiert wird.
Patricia Tichy, die als Wienerin vor sieben Jahren dazu stieß und mittlerweile auch Solistin ist, nennt die Ballett-Tage einen Ausnahmezustand, in denen sich das eingeschworene Ensemble auch trägt. Der Applaus, der in Hamburg von einer besonderen Glücklichkeit ist, wirkt da wie eine Rückkoppelung. Da schießt das Adrenalin in beide Richtungen: von den Tänzern ins Publikum und von dort wieder zurück.
Drei Wochen lang Ballett-Tage, nahezu an jedem Abend ein anderes Werk aus dem großen Repertoire des Intendanten. „Romeo und Julia“ (Prokofjew) aus den 70er Jahren und somit aus der Frühzeit des Choreografen Neumeier, jung und überzeugend besetzt mit Thiago Bordin und Héléne Bouchet, kommt ohne John Crankos Vorbild nicht aus. Im dritten Akt etwas langatmig weil zu erklärend, erzielt die Liebestragödie trotzdem große Wirkung. Am nächsten Abend aber die „Dritte Mahler“: Die Aufführung wird zum großen Triumpf − trotz der Musik vom Tonträger − und erstaunt die Zuschauer(in) aufs Neue. So kraftvoll in der spirituellen Aussage war die Inszenierung nicht in Erinnerung gewesen.
Alexandre Riabko, der in drei Tagen vier große Rollen, auch wegen Krankheit von Kollegen, tanzte, hat sich zu einem herausragenden Solisten entwickelt. Technik, Präsenz, Schauspiellust und temperierbare Energetik werden da jeweils im Sinne des Erfinders beherrscht und zum Einsatz gebracht; nach dem ausführlichen „Nijnsky“ mit vielen Spektralfarben am Sonntag Nachmittag dann auch noch in dem Erinnerungsstück „Le Pavillon d’Armide“, das einen historisch bezugreichen Pas de trois in der Einstudierung der Ballets Russes-Ballerina Alexandra Danilova einschließt.
Der 16. Juni galt einem der überzeugendsten Tanzwerke Neumeiers, dem „Nijinsky“, in dem der aus Wien angereisten Tanzautorin erneut Patricia Tichy begegnet. Dieses Mal als Bronislava Nijinska in einer sehr starken, selbstbewussten Porträtierung, die tanzmaterial-mäßig bereits auf die eigenwillige Schöpferkraft der historischen Frau hinweist.
Am eigentlichen Abend aber verwandelt sich Tichy ein weiteres Mal, nun in die Auserwählte in Neumeiers „Le Sacre“ aus den 70er Jahren, am Pult wirkmächtig Christoph Eberle. Tags darauf wird sie spannend zu erzählen wissen, wie sie von Niurka Moredo in den Proben angeleitet wurde, wie sie auch Corduas legendäre Interpretation vor Augen hatte und Neumeiers Text im Kopf. Dessen Niederschrift nach der ersten Durchlaufprobe in Frankfurt (1972) ist im aktuellen Programmheft abgedruckt und ein Schlüssel zur Aufführung, die immer noch heutig wirkt. Wie Tichy anmerkt, muss im Verlauf das Tierische in der Gestaltung über Hand nehmen, das Ekstatische austreten dürfen: Ein gewaltiges Solo, das in den Boden hinein drängt mit vorne über gebeugtem Oberkörper und nicht die Vertikale sucht wie im Solo der Rekreation von Millicent Hodsons Nijinsky-„Sacre“, das Tichy übrigens auch tanzen durfte.
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