„Rite of Spring“ von Paul Julius

„Rite of Spring“ von Paul Julius

Ein Komponist, zwei Opfer, ein ganzer Abend

Strawinskys „Oedipus Rex“ und „Le sacre du printemps“ am Teatr Wielki in Poznan

Bilder eines Rituals, das sich letztlich scheinbar unaufhaltsam vollzieht und an dessen Ende das einsame Opfer die Masse, für die es seinen Weg ging, nicht mehr zu interessieren scheint.

Poznan, 22/11/2013

Archaische Klänge, strenge, rhythmische Strukturen bestimmen Strawinskys oratorisches Werk, zu dem Jean Cocteau den Text nach der antiken Tragödie des Sophokles, der 496 oder 497 vor Christus geboren wurde, verfasste. Die Geschichte des Königsmörders und Ehegatten der eigenen Mutter, der alles daran setzt eben jene Blutschuld aufzuklären, die er selbst begangen hat, wurde 425 v. Chr. uraufgeführt und führte schon damals in eine noch ferner liegende Zeit und spielt vor dem königlichen Palast in Theben um 1250 vor Christus.

Georg Hensel spricht vom genialsten Reißer der Bühnenliteratur, ein Kriminalfall, in dessen Lösungsverlauf der Täter sich selbst in dem Maße näher kommt wie er sich selbst als Verursacher der Schuld erkennt. Oedipus, der ahnungslose Gerechte, zerbricht an der Erkenntnis, dass er schuldig ist. Das Drama stellt die Frage, ob die menschliche Unschuld nicht eine Fiktion sei, und jeder Mensch sich in seinem Leben in Schuld verstrickt, schlimmstenfalls - wie in der zeitlosen Tragödie - in Blutschuld und moralische Schande. Und auch dies erfährt der Zuschauer von heute in diesem Drama: der Mensch entgeht seinem Schicksal nicht. In diesem Falle wurde ja der Knabe Ödipus, dessen unglaubliche Geschichte von keinem geringeren als Apollon selbst vorausgesagt war, ausgesetzt, die Füße des Kindes wurden verstümmelt um eben dessen vorausgesagten Weg zu verhindern. Allein der „Schwellfuß“, so die Übersetzung des Namens, geht seinen vorherbestimmten Weg und kann sich am Ende nur noch, wenn er in metaphorischem Sinne ein Sehender geworden ist, in einem Akt der Verzweiflung die Augen ausstechen und so wie er blind den Weg des vorherbestimmten Schicksals gehen musste jetzt blind in die erbetene Verbannung. In Anlehnung an die Traditionen des antiken Theaters kommt in der Komposition Strawinskys dem Chor eine entscheidende Rolle zu.

In stilisierter Form hat Petra Kornik eine große Treppe für den Chor auf die weite Bühne des Poznaner großen Theaters bauen lassen. Wie im Original Strawinskys führt ein Sprecher das Publikum durch die Geschichte, deren Verlauf dann entsprechend der klassischen Tradition kommentierend sich vollzieht. So ist es nur logisch, dass der Chef des Poznaner Balletts Jacek Przybyłowicz als Regisseur und Choreograf gewonnen wurde. Przybyłowicz gelingen vor allem mit dem großen Chor der Herren der Oper in Poznan eindringliche Bilder, dabei bilden der Beginn und das Finale so etwas wie einen optischen Rahmen. In einzelnen Bildern, bei aller szenischen Sparsamkeit haben dann doch Emotionen ihren Raum, vor allem wenn in den Partien der Jokaste und des Titelhelden so ausdrucksstarke Künstler wie die Mezzosopranistin Agnieszka Zwierko und Jacek Laszczkowski, den die Zeitschrift Opernwelt zum Sänger des Jahres kürte, zur Verfügung stehen. Przybyłowicz setzt auch hier sein choreografisches Maß durch und behält so die Reduktion der Aktionen, ganz im Sinne des Werkes, bei. Eine Besonderheit ist der Einsatz von vier Tänzerinnen und fünf Tänzern, denen sowohl strenge, kommentierende Bewegungsbilder vorbehalten sind, als auch in neoklassischen Formen so etwas wie zeitlose Assoziation im Hinblick auf das rituelle Geschehen dieses Dramas. Der Dirigent Gabriel Chmura vermeidet ganz im Sinne des Komponisten jeden sentimentalen Anklang, setzt mit dem aufmerksamen Orchester bewusst auf die Opulenz archaischer Strenge der Partitur.

Der zweite Teil dieses Poznaner Strawinsky-Abends, unter der musikalischen Leitung von Grzegorz Wierus und dem leider nicht mehr ganz so konzentrierten Orchester, gehört gänzlich dem Tanz. In der Choreografie von Paul Julius vollzieht sich das Ritual eines Opfers, „Le sacre du printemps“. Julius verfällt nicht dem Drang einer vordergründigen Aktualisierung und lässt auch Anklänge möglicher historischer Zitate 100 Jahre nach der Uraufführung dieses Stückes außer Acht. Er geht seinen eigenen Weg und kommt so Kraft der von ihm bevorzugten Strenge neoklassischer Formen zu Bildern eines Rituals, das sich letztlich scheinbar unaufhaltsam vollzieht, und an dessen Ende das einsame Opfer die Masse, für die es seinen Weg ging, nicht mehr zu interessieren scheint. Das Drama schleicht sich ein. Zunächst in beinahe unverbindlich wirkenden Spielen der Tänzerinnen und Tänzer, im balzenden Protzen der Männer, in Zustimmung und Zurückhaltung der Frauen, wenn sich Paare finden und wieder verlassen, wenn Männer die Frauen erheben, um dann gleich darauf sich wieder um sich selbst zu drehen, nimmt man so etwas wie unbestimmtes Suchen wahr. Auf der Bühne von Petra Kornik bildet ein Kreis gläserner Schalen das assoziative Bild für das rituelle Geschehen. Der Choreograf kann sich auf die tänzerische Präsenz und das klassisch grundierte Können der Poznaner Kompanie verlassen.

Wie schon im ersten Teil des Abends nimmt man einen Tänzer wie Gento Yoshimoto besonders wahr. Besonders stark ist der Eindruck, den die Tänzerin Shino Sakurado als Opfer vermittelt. Zudem hat Paul Julius für sie auch eine besondere tänzerische Herausforderung kreiert. Wenn sie sich in die Rolle des Opfers begibt, steigt sie auch aus dem tänzerischen Kanon des ritualisierten Spitzentanzes aus. Sie zieht die Schuhe aus, sie wird fortan mit bloßen Füßen tanzen, sie wird sich steigern in rasantem Außenseitertum, sie nimmt die Musik körperlich auf und erhebt sich in ihrem Opfertanz, noch bevor sie von der Gruppe im Blitzlicht des Schlussbildes erhoben wird. Der Kreis hat sich geschlossen, der Abend in zwei Teilen wird zu einem Ganzen, jetzt in tödlicher Steigerung, als Konsequenz tragischer Vorherbestimmungen menschlicher Existenzen.
 

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