„Götterboten“ von Aljoscha Lenz.

„Götterboten“ von Aljoscha Lenz.

Verborgene Talente

17 TänzerInnen des Hamburg Ballett zeigen eigene Choreografien

Normalerweise sind sie mit 90 Vorstellungen jährlich und Gastspielen in aller Welt voll ausgelastet, die Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Ballett. Und doch ließen sie es sich nicht zweimal sagen, als sich die Möglichkeit bot, eigene Choreografien zu zeigen.

Hamburg, 27/04/2016

Normalerweise sind sie mit 90 Vorstellungen jährlich und diversen Gastspielen in aller Welt voll ausgelastet, die Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Ballett. Und doch ließen sie es sich nicht zweimal sagen, als sich – wie schon 2015 – die Möglichkeit bot, eigene Choreografien zu zeigen. Mit zehn Bewerbungen habe man gerechnet, sagte Braulio Álvarez, der Koordinator der diesjährigen „Jungen Choreographen“, 17 sind es geworden, vorwiegend aus den Reihen der Gruppentänzer. Maximal acht Minuten sollte jedes Werk dauern, bei manchen waren es aber dann doch 15... Jedes Stück ist in der nicht gerade üppig bemessenen Freizeit der TänzerInnen entstanden, und es war unverkennbar, mit wie viel Herzblut, Begeisterung und Hingabe jede/r einzelne dabei war. Vor allem aber wurde deutlich, wie viele großartige choreografische Talente in den Reihen der TänzerInnen schlummern.

Vier Vorstellungen in der kleinen Opera stabile standen zur Verfügung, deren winzige Bühne mit viel Phantasie und Intelligenz und der Unterstützung eines engagierten Technik-Teams pfiffig genutzt wurde. Warum sich die Intendanz der Kampnagel-Fabrik diese choreografisch wie tänzerisch gleichermaßen wertvollen Leckerbissen nun schon zum zweiten Mal entgehen lässt, bleibt ein Rätsel – zumal die Vorstellungen ratz-fatz ausverkauft waren und sich eine eine große Halle wie der K6 ohne weiteres nicht nur einmal hätte füllen lassen.

Das Hamburger Publikum bekommt dieses Jahr aber eine zweite Chance, das zweiteilige Programm doch noch sehen zu können: Jüngst gab John Neumeier bekannt, dass anstelle der traditionell eingeladenen Gastkompanie bei den diesjährigen Ballett-Tagen an zwei Abenden (12. und 13. Juli) die „Jungen Choreographen“ noch einmal zum Zuge kommen sollen. Bleibt zu hoffen, dass am Programm keine allzu massiven Kürzungen vorgenommen werden, denn beide Teile sind in Bezug auf Zusammensetzung und Länge genau richtig, und jedes einzelne Werk ist sehenswert. Ganz egal, ob es sich eher um kleinere Stücke handelt, die mit zwei oder drei Tänzern auskommen, oder um umfangreichere Kompositionen.

Zu den kleinen, aber feinen Stücken zählte zum Beispiel „From a C-Utopia“ von Lizhong Wang, der Dennis Peschke für die bestechend elegant-raffinierten Kostüme als Designer gewinnen konnte. Ein starker Auftakt des Programms A, eine Ost-West-Melange mit einer streckenweise fast meditativen Aura von Zen-Kampfkunst, die aber auch mit raumgreifenden Bewegungen Dynamik verströmte, ganz wunderbar getanzt von Yun-Su Park, Miljana Vracaric, Alexandre Riabko und Luca Andrea Tessarini. Nicht minder brillant „Bivio“ von Florencia Chinellato – ein Pas de Deux, den sie selbst mit dem wie immer extrem fokussierten Sasha Riva tanzte, mit weichen, ineinander fließenden Bewegungen, mit sich ineinander verschraubenden Drehungen und Wendungen – das war gerade in dieser komplexen Schlichtheit sehr bewegend. Oder auch Winnie Dias’ „Meant to fly“, ein Stück für zwei Paare, in dem es um Abschied und Zurückbleiben geht.

Höhepunkt Nummer 1 war dann Edvin Revazovs „Vesna“ für zwei Tänzerinnen (Georgina Hills, Priscilla Tselikova) und vier Tänzer (Leeroy Boone, Graeme Fuhrman, Alexandr Trusch, Eliot Worell). Ein Stück, das einem das Blut in den Adern gefrieren lässt, wenn sich die vier schwarzen Herren in weißmaskierte Zombies verwandeln, die sich des Menschen bemächtigen und ihn verschleppen. Grandios.

Höhepunkt Nummer 2 folgte sofort danach mit Miljana Vracarics Pas de Deux „The Episodes of Absence“. Ein reifes, tiefgründiges Werk, brillant getanzt von Silvia Azzoni und Alexandre Riabko. Nicht minder faszinierend ging es weiter: Mit Sasha Rivas „Countdown“ unter dem Motto „Spit over control ... Motionless Goodbyes?“, das unschwer erkennbar autobiografische Züge trug, hatte der 25-Jährige doch zum Ende der Spielzeit seinen Vertrag gekündigt, ohne einen neuen bereits in der Tasche zu haben. Für Hamburg ist das ein herber Verlust, denn Sasha Riva hat mit der ihm eigenen Konzentration und Ausstrahlung diversen großen Rollen seine eigene Prägung verliehen: dem Mann mit den Luftballons in „Liliom“, einem der drei Weisen im „Weihnachtsoratorium I-VI“, Zaretsky in „Tatjana“, dem Dichter in der „Kleinen Meerjungfrau“ und vielen mehr. Mit dem spannungsgeladenen „Countdown“ für drei Tänzerinnen (großartig: Hélène Bouchet, Ziyue Liu, Yun-Su Park) und drei Tänzer (neben ihm selbst Aleix Martínez und Luca Andrea Tessarini) stellte er sein choreografisches Talent ein weiteres Mal unter Beweis. Wir werden ihn sehr vermissen.

Zum Atemholen gab es danach eine kleine, feine Lovestory von Braulio Álvarez: „Pain pushed me forward“, in der eine Frau zwischen zwei Männern steht, mit Hingabe zelebriert von der wunderbaren Sara Coffield mit Nicolas Gläsmann und Mathias Oberlin.

Den Abschluss von Programm A bildete „Beautiful Soul“ von Marcelino Libao für zwei Paare (Mayo Arii, Silvia Azzoni, Christopher Evans und ihm selbst) in Kostümen von Lennart Radtke. Auch dies keine leichte Kost, sondern eine stellenweise sehr poetische, tiefschürfende Auseinandersetzung um Glück und Leid, um Verlust und Hingabe.

Den Auftakt zu Programm B machten die „Götterboten“ von Aljoscha Lenz unter dem Motto „I want you. And I want you to be.“ Die Götterboten, das waren rätselhafte Gestalten mit wulstigen Schulterballons und weißen, das Gesicht halb verdeckenden Masken. Aljoscha Lenz verpasste ihnen eine höchst phantasievolle Choreografie mit vielen kleinen, pfiffigen Effekten. Ganz im Fluss der Musik von Ludovico Einaudi dann Florian Pohls „I Giorni“ – ein wunderschönes Ineinanderfließen der Bewegungen rund um eine kreisende Mitte, exzellent getanzt von Florencia Chinellato, Greta Jörgens, Yun-Su Park, Lizhong Wang und Florian Pohl selbst.

Ums Verlieren und Wiederfinden, Alleinsein und Umsorgtsein drehte sich Christopher Evans „Soul Sketch“, in dem wiederum Yaiza Coll, Miljana Vracaric und Nicolas Gläsmann brillierten. Nicht minder nachdenklich das „Oratio“ von Kristína Borbélyová unter dem Dostojewski-Motto „Was ist die Hölle? Ich behaupte, sie besteht darin, unfähig zu sein zu lieben.“ Luca Andrea Tessarini, der zum Ende der Spielzeit Hamburg ebenfalls verlassen und zum Nederlands Dans Theater wechseln wird, zeigte darin (neben Yun-Su Park und Lizhong Wang) ein weiteres Mal seine phantastische Bühnenpräsenz. Noch einer, den wir in Hamburg sehr vermissen werden.

Höhepunkt Nummer 1 im zweiten Programm kam dann unmittelbar vor der Pause: Marc Jubetes „Metamorphosis“. Im Mittelpunkt steht hier die Lebensgeschichte einer Frau (wunderbar konzentriert und intensiv: Yaiza Coll). Aus Heiterkeit und Leichtigkeit wird Abgestumpftheit, Schwere und Lethargie, aus Aktivität und Lebenslust wird Willenlosigkeit und Passivität.

Nach der Pause dann ein Tanztableau rund um Marie Antoinette als Sittengemälde ihrer Zeit mit all den höfischen Zwängen und Beschränkungen von Lennart Radtke, in dem vor allem Emilie Mazón als zartes Alter Ego der tragischen französischen Königin beeindruckte. Bemerkenswert die von Lennart Radtke selbst genähten Kostüme in feinstem Barock-Stil!

Höhepunkt Nummer 2: „Aether“ von Luca Andrea Tessarini vor einer mit Kreide beschrifteten Tafel: „Every time the fire burns, non-stop the water runs. Each time the wind blows, forever the earth grows. Aether is all that is.“ Eine grandiose Patrizia Friza, ein atemberaubendes mundbeschutztes Trio aus Sasha Riva, Marc Jubete und Tessarini selbst, eine eindrückliche Xue Lin und ein in seiner Ruhe bezwingender Aleix Martínez – das war ebenso choreografisch wie tänzerisch große Kunst.

Als Atempause vor dem Schluss ein leichtfüßiges, witziges „Solo für zwei“ von Konstantin Tselikov mit Madoka Sugai und Alexandr Trusch – sehr schnell, sehr behände kreiseln sie umeinander, gehen in Dialog, um dann doch nebeneinander auseinanderzudriften.

Den im Wortsinne krönenden Abschluss beider Programme bildete Aleix Martínez’ „Kleines Requiem“ für acht TänzerInnen zu Musik von Henryk Górecki („Kleines Requiem für eine Polka“) unter dem Motto: „Erinnern wir uns der Verlorenen. Die Zeit ist eines der wenigen wichtigen Dinge, die uns bleiben.“ Der erst 24-jährige Martínez hat hier ein ungemein durchdachtes Werk von großer Tragweite geschaffen, in dem Patricia Friza ein weiteres Mal zeigte, zu welch großartiger Darstellerin sie gereift ist und wie fein ihre Technik ist.

Bleibt zu hoffen, dass John Neumeier möglichst vielen dieser jungen Talenten erlaubt, ihr Werk auf der großen Bühne der Staatsoper zu zeigen und es an deren Möglichkeiten anzupassen.

 

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