Stephan Thoss: „Intervalle“ und „So nah und doch so fern“

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Hannover, 20/06/2002

Die Enttäuschung, 24 Stunden nach Hamburg, war vorprogrammiert. Stephan Thoss gehört seit seinen Dresdner Tagen meine Sympathie und ich hatte mir gewünscht, er würde öfter in Stuttgart arbeiten – schon seines alternativen Bewegungsvokabulars wegen. Seine Einstandspremiere in Hannover mit ihrer russischen Thematik fand ich durchaus anregend und vielversprechend.

Nun also sein zweiter großer Abend im Opernhaus, ohne Orchester, elektrobeschallt. Die vierte Vorstellung seit der Premiere am 7. Juni. Das Haus zu zwei Dritteln gefüllt, das Publikum wohlwollend freundlich. Auf dem Programm zwei Arbeiten: „Intervalle“, Jahrgang 2000, als Übernahme aus Kiel zu Musik von Bach und Pärt – danach, als Kreation, „So nah und doch so fern“ (könnte auch ein Titel von Spoerli sein) zu einem Musikverschnitt aus lauter Ohrwürmern zwischen Händels Largo und Straussens Zarathustra.

In beiden – Stücken, Balletten ? – (Thoss belässt sie ohne Gattungsbezeichnung) geht es um die „zunehmende Isolation des Menschen in der modernen Gesellschaft, dem Neben- und Miteinander von Individuen, die sich bei wachsender räumlicher Nähe immer weiter voneinander entfernen“ – einmal („Intervalle“) traurig-isolationistisch – zum zweiten („So nah ...“) karikaturistisch-verzickt (die liebe „heile Familie“).

Das erste – ich will es einmal Ballett nennen, unerträglich langwierig und langweilig, mit seiner 70 Minuten Dauer über eine halbe Stunde zu lang. Ich bin immer wieder eingeschlafen. Kein Wunder bei solch einem Quantum Pärt-Musik (die ich dosiert durchaus zu schätzen weiß). Am besten noch die frisch-fromm-fröhlich-freien springfreudigen Sequenzen zu Bachs Brandenburgischem Konzert. Sie bezeugen Thossens Musikalität und auch seinen ausgepichten Formsinn (beide Ballette münden wieder in ihre Ausgangsposition).

Aber: Thoss kann keine interessanten Soli choreografieren und schon gar keine Adagios – und auch seine Pas de deux sind von entwaffnender Banalität (trotz seines Männerduo-Hits „My Way“). Ich fand‘s sterbenslangweilig. Und nach seinem abstrus-komischen Einstieg leider auch sein zweites Ballett – vor allem weil seine Personen keinerlei individuelle Kontur gewinnen. Zudem scheint Thoss jegliches Zeitgefühl abhandengekommen zu sein (die endlosen Repetitionen im Händel-Largo, die lähmenden Wiederholungen im Boccherini-Menuett).

So missgestimmt habe ich schon lange keine Ballettvorstellung mehr verlassen – vergleichbar noch am ehesten, wenn auch aus anderen Gründen, das Wiener Spartakus-Desaster. Könnte der von Thoss mit Recht so beklagte Isolationismus eventuell auch damit zu tun haben, dass die Menschen sich heute einfach nichts mehr zu sagen haben – weil sie einander langweilen (die Choreografen eingeschlossen)?

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