Zum hundertsten Geburtstag von Palucca

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Stuttgart, 08/01/2002

In Dresden wird heute groß gefeiert – Palucca wäre heute hundert Jahre alt geworden. So wird es dort eine Festveranstaltung zu ihren Ehren geben, mit einem Vortrag von Prof. John Neumeier, Hamburg (Neumeier und Palucca???), einer Ausstellung, Filmvorführungen und – als vielleicht wichtigstem und hoffentlich folgen- und erfolgsreichstem Beitrag: der Gründung eines hochschuleigenen Palucca Tanz Studios (offenbar ein bisschen angelehnt an das Essener Folkwang Tanzstudio), das heute Abend sein Debüt gibt mit Choreografien von Absolventen der Palucca Schule: Holger Bey, Anke Glasow, Mario Heinemann, Raymond Hilbert, Irina Pauls, Birgit Scherzer, Silvana Schröder, Mario Schröder, Arila Siegert, Dietmar Seyffert und Hanne Wandtke (fehlt leider Ruth Berghaus).

Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Geburtstag in eine Zeit fällt, die sich schwer tut – weniger mit dem Erbe Paluccas als mit ihrer Person. „Die Legende bröckelt“ titelt Jochen Schmidt in der heutigen Frankfurter Allgemeinen seine groß angelegte Retrospektive, und auch in den Dresdner Neuesten Nachrichten heißt es: „Es macht Mühe, Palucca noch hinter all den Fotografien, biografischen Recherchen, Geschichten, Legenden, gar Anfeindungen selbst zu entdecken.“ Sehr dürftig ist übrigens die Reaktion auf diesen Geburtstag in der übrigen deutschen Presse ausgefallen. Ich bilde mir zwar nicht ein, alles gelesen zu haben, aber beim Surfen im Internet habe ich nur noch zwei etwas umfangreichere Würdigungen entdeckt: in der Berliner Morgenpost (nicht in der Welt) eine sehr verständnisvolle von Klaus Geitel und eine weitere von Sandra Luzina im Tagesspiegel – nichts dagegen in den beiden Stuttgarter Tageszeitungen, einst doch im vordersten Glied des publizistischen Engagements für den Tanz.

Kontoverse Reaktionen haben die beiden jüngst erschienenen Bücher über Palucca ausgelöst, Katja Erdmann-Rajskis „Gret Palucca – Tanz und Zeiterfahrung in Deutschland im 20. Jahrhundert“ bei Olms in Hildesheim (kj vom 11. April 2001) und Ralf Stabels „Tanz Palucca! Die Verkörperung einer Leidenschaft“, bei Henschel in Berlin (kj vom 2.11.2001) – wobei sich beide unter ganz verschiedenen Perspektiven mit Palucca auseinandersetzen – Erdmann-Rajski als Wissenschaftlerin mit einer Analyse ihrer Tänze und ihrer Pädagogik auf Grund ihrer interaktionistischen Beeinflussung durch die gegebenen historischen, politischen, wirtschaftlichen und künstlerischen Zeitphänomene – Stabel als Publizist mit einer ungemein detaillierten und zitatenreichen Materialsammlung zu ihrer Biografie (ohne doch die Irritationen und Leerstellen ihres Lebens und ihrer Karriere zu verschweigen). Dabei ergänzen die beiden Publikationen einander doch ausgesprochen komplementär.

Kommen noch hinzu die geradezu wütenden Attacken unserer tanzwissenschaftlichen Pythia aus Ostberlin, die sich – aus Verdrängung ihrer eigenen DDR-Vergangenheit? – gegen beide Autoren wendet: sozusagen als Myrtha, Königin der Wilis und Rächerin ihrer gekränkten Ehre – auf deren aufklärerisches Standardwerk über die Verstrickungen führender Persönlichkeiten des Tanzes in die Politik der Nazis und der Realsozialisten wir dringend warten. So darf man gespannt darauf sein, welche neuen Einsichten in das Leben und das Vermächtnis von Palucca der heutige Tag bringen wird.

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