Das Hamburg Ballett gastiert mit John Neumeiers „Nijinsky“ im Mariinsky-Theater

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St. Petersburg, 08/07/2003

Die Politiker hätten einem vergleichbaren Ereignis zweifellos historische Bedeutung beigemessen! Man bedenke: eine – trotz ihres hohen Ausländeranteils – deutsche Kompanie gastiert eine Woche lang mit acht Vorstellungen im St. Petersburger Mariinsky-Theater, Heimat und noch immer Zentrum des klassisch-akademischen Balletts. Und reiht sich damit ein in die große Gratulationscour aus Anlass des 300-jährigen Jubiläums der Newa-Metropole (noch bevor das Royal Ballet und das New York City Ballet ihre Geburtstagsglückwünsche offerieren). Auf dem Programm drei Ballette, davon zwei russisch bis ins Tiefste ihrer Seele: „Nijinsky“ und „Die Möwe“ – dazu „Die Kameliendame“, alle drei von John Neumeier, der als Amerikaner nach Deutschland kam und hier sesshaft wurde – wie seinerzeit der Franzose Marius Petipa in St. Petersburg.

Das sind geradezu atemberaubende Perspektiven! Wie mag Neumeier an diesem Abend zumute sein? Wie den Tänzern, auf dieser Bühne, wo sie zum Teil Persönlichkeiten verkörpern, deren Weltruhm von hier seinen Ausgang nahm? Ist es auch der Höhepunkt meines Lebens als Wegbegleiter des Balletts seit einem halben Jahrhundert – und ja auch als kritischer Beobachter John Neumeiers seit seinem Europadebüt unter John Cranko in Stuttgart? Ich weiß es nicht, was das Leben sonst noch für mich bereithält, kann mir aber nicht gut vorstellen, dass es noch weitere Abende gibt, die für mich so schwer von Geschichte sind. Noverre und Taglioni und auch noch John Cranko in Stuttgart – gut und schön! Doch an diesem Abend hat sich das deutsche Ballett seine welthistorische Approbation ertanzt. Und es erfüllt mich mit einem ungeheuren Glücksgefühl, dabei gewesen zu sein!

Sie haben sich an diesem Abend aber auch die Seele aus dem Leib getanzt, diese wunderbaren Hamburger! Beflügelt offenbar von den musikalischen Impulsen, die sie vom legendären Mariinsky-Theater-Orchester unter der Leitung von Vello Pehn beflügelten. Ausnahmslos, sie alle! Und ganz besonders natürlich Anna Polikarpova als Romula – Solistin an diesem Haus in den späten achtziger Jahren, von dem sie aufbrach, dem Hamburger Ballett jene Prise Petipa-Waganowa beizumischen, dank deren Hamburg heute seine legitime St. Petersburg-Nachfolge reklamiert. Aber dann müsste man sie eigentlich alle nennen, Jiří Bubeníček in der Titelrolle, seinen Bruder Otto (der als Goldener „Scheherazade“-Sklave das erste Bravo und den ersten Zwischenbeifall provozierte), Yukichi Hattori als Stanislav, der schicksalsgezeichnete Bruder von Waslaw, Heather Jurgensen als Karsawina, Alexandre Riabko in „Spectre de la rose“, Guido Warsany als junger Rivale in „Jeux“, Lloyd Riggins als Petruschka, Ivan Urban als Diaghilew und ... und ... und ... Und natürlich dieses ganze wunderbare Corps als Society People, Soldaten, Ballets-Russes-Mitglieder. Ihnen allen galt am Ende der einmütige Beifall des ausverkauften Hauses – und man weiß ja, wie anspruchsvoll die Russen sind, wenn es um ihre eigenste Kunst, das Ballett und noch dazu um das russische Ballett geht! Man wird sich dieses Datum merken müssen: St. Petersburg, den 8. Juli 2003 – ein Red-Letter-Day der deutschen Ballettgeschichte!

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