Stephan Thoss: „Incantations“

oe
Hannover, 20/06/2003

Freitagabend. Eine Abo-Vorstellung vor schütter besetztem Haus. Premiere war vor etwa einem Monat – offenbar hat sie wenig Mundpropaganda bewirkt. Es ist der zweite Teil von Thossens geplanter Russen-Trilogie. Vorige Spielzeit hieß es „Nach Moskau“ – zu Schostakowitsch-Musik. Für die nächste Saison ist „Zwischen Mitternacht und Morgen: Schwanensee“ angekündigt. Russisch ist an diesem Abend lediglich die Musik – ausschließlich vom Tonband (und das in einem Staatsopernhaus!) – und allenfalls das Bühnenbild von Till Kuhnert: große Kreisformen, die von Dreiecken durchschnitten werden und an Malewitsch und seinen Suprematismus erinnern (ähnlich Neumeiers „Nijinsky“). Am Anfang „Gebet“ zu Texten aus dem „Kaddish“ von Alexander Raskatov, dann „Incantations“ (das titelgebende Stück von Alexandre Rabinovich. Nach der Pause zuerst die erste Szene aus Strawinskys „Orpheus“, dann „Les Noces“ und zum Schluss nochmals ein kurzes „Orpheus“-Zitat.

Die vier Abschnitte des Balletts heißen „Trennung“ – drei Paare in extrem verqueren Gliederkonstellationen – dann „Suchen“, eine extrem hektische große Gruppenchoreografie (das alte Thoss-Lied: er kann und kann kein Ende finden!) – darauf „Finden“ mit zwei Paaren – kann ich mich überhaupt nicht mehr daran erinnern – und zum Schluss „Erkennen“ zu „Les Noces“, weit entfernt vom Originallibretto, mit schwer zu identifizierenden Doppelpaaren der Brautleute und der Eltern. Doch was tut‘s! Das Stück ist ein regelrechter Knüller – nicht ohne Humor, fantastisch musikalisch, überhaupt nicht russisch – dafür ganz und gar thossisch, gemäß seinem höchst individuellen Vokabular und seiner eigenen Grammatik – von einer unglaublichen Bewegungs-Eloquenz. Wie er choreografiert heutzutage niemand – jedenfalls niemand, den ich kenne. Und das ist fabelhaft anzusehen. Es wird von den Hannoveranern getanzt, dass die Fetzen fliegen. Als ob sie alle von Kindesbeinen im System Thoss trainiert worden wären. Man kann sich schwer vorstellen, dass ja auch sie vermutlich klassisch-akademisch ausgebildet worden sind.

Das kann man nur in Hannover sehen (oder in Dresden? Ist das sein Palucca- und Patricio-Bunster-Erbe?). Da ist nichts von Balanchine, Robbins, Forsythe, Kylián und wie sie sonst heißen mögen. Reiner, unverwässerter Thoss! Das hätte ich am liebsten gleich noch einmal gesehen! Und auf seine ganzen kopflastigen erotischen Spintisierereien von Plato bis Erich Fromm im Programmheft gern verzichtet! Im Spielplanbuch für 2003/04 werden zwar alle möglichen Sonderveranstaltungen angekündigt, doch einen Hinweis auf den am 29. Oktober fälligen hundertsten Geburtstag von Yvonne Georgi habe ich vergeblich gesucht.

Kommentare

Noch keine Beiträge