John Neumeiers „Nijinsky“ in New York

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Stuttgart, 26/02/2004

Zur definitiven Heimkehr des Verlorenen Sohnes scheint das USA-Gastspiel des Hamburg Balletts mit John Neumeiers „Nijinsky“ nach seinen ersten beiden Stationen in Los Angeles und New York (vom dritten Ort, Washington, DC, liegen noch keine Berichte vor) nicht zu werden. Und das ist auch gut so, denn wir würden ihn ungern für seine letzten kreativen Jahre (Jahrzehnte?) aus Hamburg verabschieden. Aber es sieht ganz so aus, als ob die Amerikaner ihn warmherziger aufgenommen haben als bei seinen letzten Stippvisiten – geradezu triumphal in Orange County bei L.A., mit Standing Ovations aber auch im New Yorker City Center (wo die Hamburger auf eigene Kosten gastierten – was den Stuttgartern letzthin noch zu riskant erschien).

Die bisher bekannt gewordenen Kritiken, inklusive der allmächtigen Anna Kisselgoff von der New York Times, sind überaus freundlich und verständnisvoll, mit kleinen, wohl begründeten Einschränkungen. Irgendwie hat man das Gefühl, dass die Kritiker (und wohl auch das Publikum) darüber stöhnten, was ihnen Neumeier an Gedankenfracht zumutete. Vergleichbares kannten sie bisher nur von Boris Eifman und seinen Bio-Dokus – und in dieser Beziehung erklärten sie Neumeier seinem russischen Rivalen eindeutig überlegen (eine Einschätzung, welche die Hamburger Kompanie künstlerisch insgesamt übrigens auch gegenüber dem Bolschoi-Ballett aufwertete, das kurz davor in Kalifornien gastiert hatte – wie die Hamburger ja auch bereits in St. Petersburg reüssiert hatten im Vergleich mit dem ihnen nachfolgenden Royal Ballet und dem New York City Ballet). Es gab indessen auch ein paar total negative Kritiken – dabei scheint es sich allerdings um Einzelstimmen aus Ballettomanenkreisen zu handeln, denen das Internet zur Verbreitung ihrer Privatmeinungen als willkommenes Forum dient (wer daran interessiert ist , kann sie etwa von Gia Kourlas unter dem Titel „Clichés of Madness“ unter www.danceviewtimes.com nachlesen oder von Eric Taub unter www.ballet.co.uk/dcforum).

Kisselgoff hat ihre Kritik „A Life of Genius, Its Madness and Magic“ überschrieben und kommt im Vergleich mit anderen Balletten über den „legendären Superstar“ zu dem Resümee: „Keines verfügt über die Vision, Leidenschaft und Detailgenauigkeit, wie sie Neumeier in ‚Nijinsky‘ bietet. Es ist kein perfektes Werk, aber seine Defizite werden von der Phantasmagorie hinweggefegt, mit genau der passenden Musik, die mit ausgesprochen potenter Bildkraft die Bühne überschwemmt. Das Ballett, Traum eines jeden Kommentators, vermittelt das Gefühl ‚Dies ist Dein Leben‘, wie sich in ihm Charaktere aus Nijinskys Biografie (1889-1950) überschneiden. Ideen stechen oft die Choreografie in Neumeiers Balletten aus, doch hier verschmelzen sie mit dem Tanz. Zumeist kapituliert der Realismus vor der Fantasie in diesem Werk, das versucht, etwas von Nijinskys schöpferischem Geist und seinen inneren Dämonen zu erkunden.“

Auch der sehr seriöse Robert Johnson kommt in The Star Ledger zu dem Schluss: „Leute, die sich in der Nijinsky-Überlieferung auskennen, werden das Ballett am meisten zu schätzen wissen. Die Uneingeweihten könnten verwirrt werden, doch nimmt Neumeiers Darstellung derart für sich ein, dass sie veranlasst sein könnten, sich intensiver damit zu befassen – was Neumeiers größtes Geschenk an sein Idol sein dürfte.“ Die Tänzer finden hohes Lob. Johnson bescheinigt der Kompanie Stilbewusstsein und exzellent präpariert zu sein. Von den beiden Nijinskys der Alternativbesetzung attestiert Kisselgoff Jiří Bubeníček kraftvolle Bravour und eine geradezu zornige Intensität, während Alexandre Riabko sich als ein Klassiker von sinnverwirrendem Format erwies. Schon vorher hatte Allan Ulrich die Hamburger in Orange County als eine „wahrhaft internationale Kompanie“ gefeiert. „Keiner der Principals und nur einer der Solisten, die im Programm aufgelistet sind, ist von deutscher Geburt. Doch wenn man diesen ‚Nijinsky‘ gesehen hat, versteht man, was sie an Neumeier so besonders anzieht.“ Das ist genau das, was ich von vielen prominenten Tänzern aus der ganzen Welt von Ethan Stiefel bis Manuel Legris bei einer Hamburger Party nach einer „Nijinsky“-Galavorstellung hörte: Ach, wenn doch einmal ein Choreograf käme und für uns so ein Ballett machte!

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