Gespenstische Familiengeschichten

„Sooner or Later“ von Lightfoot León beim Holland Festival in Amsterdam

Amsterdam, 03/06/2007

Während im eleganten „Muziektheater“ am Ufer der Binnenamstel Donnerstag Abend Patrice Chéreaus Inszenierung von Leos Janáceks düsterer Oper „Aus einem Totenhaus“ die Jubiläumssaison „60 Jahre Holland Festival“ eröffnete, erzählte zeitgleich das Choreografenteam Lightfoot León mit dem Nederlands Dans Theater I im harschen Ambiente der ehemaligen „Westergasfabriek“ weitab von der City gespenstische Familiengeschichten. Drohend übermächtig stehen, an die sechs Meter hoch, die Ahnen – Groß-Vater und Groß-Mutter – an der Rampe. Lautlos gestikulieren und grimassieren sie, entfernen sich schließlich, von unsichtbaren „Kulissenschiebern“ wie Puppen in Gang gesetzt, ziehen den schwarzen Vorhang beiseite, um den Blick auf ihre „Puppenstube“ freizugeben, in deren nackten Räumen die Nachkommen ihre Ängste leben und Alpträume träumen.

Nicht zum ersten Mal konfrontieren die ehemaligen NDT-Tänzer und jetzigen Hauschoreografen der Den Haager Weltklasse-Compagnie, Peter Lightfoot und Sol León, jung und alt. Immer wieder auch verschieben sie in ihren Choreografien mit eigener Bühnenausstattung Wände und drehen Räume, sodass der Zuschauer förmlich das Ticken der Lebensuhr hört. Aber so makaber und clownesk bizarr wie Josef Nagys Figuren, so surrealistisch und deprimierend kafkaesk wirkte bisher keins ihrer Tanzstücke. Nannte der Tscheche Janácek seine letzte Oper eine „schwarze Oper“, die nach Dostojewskys gleichnamigen Erinnerungen in einem Zuchthaus spielt, so erleben wir hier ein beklemmendes „Kollektivdrama“ im Elternhaus. Glücklicherweise aber ist Familie eben doch nicht so eiskalt und so hoffnungslos fern von jeglicher Wärme wie Sibirien.

In dem schwarzen Raum sind Fußboden und Tapeten immer wieder mal beige, weiß oder gar blau getönt. Zwischen den schwarzen Geh-Röcken und Krinolinen der Altvorderen blitzen wie Hoffnungsschimmer aprikosenfarbene und weiße Kleidchen, helle Hosen, nackte Füße und Oberkörper auf. Beide Teile dieser Choreografie, zu denen jeweils die drei gleichen Kompositionen von Philip Glass eingespielt werden, enden mit einem versöhnenden Bild: ein Paar steht – wie eine Variation auf das berühmte Gemälde des symbolistischen romantischen Malers Caspar David Friedrich von der jungen Frau am Fenster – ganz hinten am Fenster, fernab hektischen Alltagsgetriebes, eng umschlungen.

Am Ende des 2. Teils vorn an der Rampe kämpft ein Kind um Zärtlichkeit. Winzig wirkt das Mädchen, übermächtig scheinen die Groß-Eltern. Aber das Kind findet seinen Weg auf den Arm der Groß-Mama. Die versteht - und hat auch noch einen Arm frei für den eifersüchtig zeternden Gatten. Voilà: eine genutzte zweite Chance für die Familienliebe! Hinten und vorn, hell und dunkel, schrecklich und schön, realer Raum und fiktiver Film, rechts oder links, zuerst und zuletzt – selbst die Titel der beiden Teile sind vertauscht und das Publikum muß seine Perspektive ändern. Wer anfangs auf der B-Tribüne in der Fabrikhalle sass, muss im zweiten Teil seinen Schalensitz auf der A-Hälfte finden.

In der fast einstündigen Pause gilt's zu wählen zwischen Cola light, Orangensaft oder Schweppes (umsonst), Wein oder Soda Campari (für Selbstzahler). „Sooner or Later“ haben der Engländer und die Spanierin ihre zweiteilige Kreation genannt. Glücklicherweise setzen die Überschriften beider Teile positive Signale: „Shoot the Moon“ zielt auf das Leuchtturmgemälde über der Puppenstube, das per Videokunst zur schauerlich nächtlichen Gewitterszene mit Vollmond mutiert.

„Second Chance“ ist eine rührende Ermutigung, „nochmal zurück zu blicken auf angsterfüllte kindliche Erinnerungen – ohne Zorn“. Gewidmet haben die beiden Choreografen und ihre tanzenden Mitstreiter diese persönliche Kindheitsbewältigung ihren Familien. Das Programmheft zeigt ganz wunderbare uralte und neue private Fotos. Ach ja – nicht zu vergessen: atemberaubend originell und einfallsreich vielfältig ist die Tanzsprache von Lightfoot León. Auch bleibt unbedingt zu erwähnen: die Top-Tänzerinnen und Tänzer von NDT I – allen voran Jorge Nozal, Yvan Dubreuil, Shirley Esseboom ud Ema Yuasa - machen vergessen, dass der menschliche Körper im „richtigen“ Leben nicht alles mitmacht. „Sooner or Later“ ist Weltklassetanz.


Bis 7. Juni in der Westergasfabriek in Amsterdam Link: www.nederlandsdanstheater.nl

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