Stilvergleich

Das NDT-Gastspiel mit Kyliáns „Psalmensymphonie“ und die „Mémoires d’Oubliettes“ sowie Lightfoot/Leóns „Studio 2“ bei movimentos

Wolfsburg, 14/06/2010

Mehr als 30 Jahre liegen zwischen Jiří Kyliáns Choreografien „Psalmensymphonie“ (1978) und „Mémoires d’Oubliettes“ (2009). Den Stilwandel eines großen Choreografen präsentierte das Nederlands Dans Theater I jetzt bei den Wolfsburger Movimentos 2010, dem sechswöchigen Festival, zu dem insgesamt 32.000 Zuschauer kamen.

In „Psalmensymphonie“ (Igor Strawinsky, 1930) entfaltet Kylián mit acht Paaren souverän eine Mixtur aus klassischem und Graham-Idiom mit höchst individueller Ausprägung. Einerseits etwa eine endlose Arabesque im Plié mit Fortsetzung im ausgestreckten Arm, andererseits die Hebung über den Kopf, bei der die Frauen in der Contraction mit gerundeten, parallelen Armen über den Männern schweben. Die faszinierend flüssigen Abläufe würzt Kylián mit kraftvoller Dynamik, explosiven Sprungserien und folkloristischen Anmutungen. Die kargen, nicht unsinnlichen Klänge, raffiniert instrumentiert, beantwortet Kylián mit mehr Emotion als Religion. In der Serie der Duos, die sich aus den Gruppenpositionen herausschälen, entwickelt sich eine besondere Tiefe der Beziehungen, bei denen aus Kampf Zärtlichkeit erwächst, aus Geschlechterstreit innige Zuwendung.

Gemeinsam ist den Szenen eine oft berückende Schönheit, niemals glatt, fast immer ästhetisch ein Genuss fürs Auge. Was wie ein Ritual beginnt, mit je vier Männern sitzend auf Stühlen links hinten und rechts außen, sowie acht Frauen in lang fallenden leichten Kleidern im Zentrum, endet dunkel: Alle schreiten paarweise zur Rückwand, wo das Licht mehr und mehr verlischt – zu den Worten „laudet Dominum“. Eine höchst aktuelle Skepsis. Die Tänzer servierten die technisch herausfordernde Choreografie, bei deren klaren Formen jede Unsicherheit offen liegt, mit trockener Präzision und enormem Drive.

In „Mémoires d’Oubliettes“ zeigt Kylián, dass er mit allen zeitgenössischen Wassern gewaschen ist: Aus dem Off gesprochene Texte von Charles Ives und Samuel Beckett, computergesteuerte Animation, Lichteffekte, Bewegungen durch den ganzen, entfesselten Körper, verzwickte Arme. Kylián schöpft das moderne Repertoire aus, scheint darüber aber einen eigenständigen Stil verloren zu haben, auch wenn ihm immer wieder suggestive Augenblicke gelingen. Thema sind ihm die Vergessenen in den Oubliettes (Burgverliesen) mittelalterlicher Zeit, sind ihm „Erinnern und Vergessen“ und „Lost and Found“. Aus dem Titel „Mémoires d’Oubliettes“, auf die geschlitzte Rückwand geworfen, träufeln einzige Buchstabengruppen herab, die sich zu neuen Worten zusammenfügen: mortes, restes, oubli (Tote, Überbleibsel, Vergessenheit). Gesichter tauchen in den Schlitzspalten auf wie Gespenster.

Sechs Gestalten treten hervor und schreiten nach vorn, unregelmäßig die Füße setzend. Die Kostüme weisen angedeutete historische Merkmale auf, ein Mann trägt Frauenkleider, höfische Gestik unterfüttert den Eindruck. Akustische Schläge (Musik: Dirk Haubrich) lösen Schockreaktionen aus. Körper vibrieren angsterregt, Katastrophisches scheint zu drohen. Skurril bilden eine Frau und ein Mann als Gegensatz ein Lebewesen mit vier Beinen. Männer halten Frauen rüde am Kopf fest. Ein Alter Ego bewegt sich düster zum Solo einer Tänzerin, dann bezaubern wunderbare Hebungen, die sich im Schwung verwandeln, ständig wechselt Kylián die Stimmung. Ständig taucht eine Frau auf, sie schiebt knatternde Silberfolie herum. Zum Schluss knallt eine riesige Wolke Silberfolie auf die Bühne, vielleicht eine Ansammlung von (Alb-)Träumen. Fassungslos verharrt die Besenfrau davor. So rechte Tiefe gewinnt das vorzüglich getanzte Spiel nicht.

Gänzlich abgerückt vom Kollegen Kylián haben Paul Lightfoot und Sol León ihre Choreografie „Studio 2“ (zu Arvo Pärts „Tabula rasa“ von 1977) dem NDT II anvertraut. Das 2009 uraufgeführte Stück ist dem Studio gewidmet, in dem seit 20 Jahren die Tänzer proben, „Können und Kreativität … beweisen“. Beide setzen bei der Entfesselung des Körpers gegenüber Kyliàn noch einen drauf, dehnen, verdrehen, verwringen Gliedmaßen und Torso bis zur Unkenntlichkeit, nutzen daneben ausgiebig klassisches Idiom mit leichten Abweichungen. Momente der Innigkeit sind rar. Fast nonchalant pflügen sich die Ensemblemitglieder durch das technisch tückische, konditionell extrem fordernde Terrain. Ein gewaltiger, nach oben und unten beweglicher, kippbarer Spiegel – wie der im Ballettsaal - gibt ihr Treiben oft wieder. Eine kleine Schräge grenzt die Fläche nach hinten ab. Darüber geschehen die Auftritte der weiß und schwarz gekleideten Tänzer und Tänzerinnen in scheinbar beliebiger Reihenfolge.

So recht kann ich aus dem Ablauf den Bezug zum Studio 2 nicht erkennen, zumindest nicht in konkreten Handlungen bis auf die Spiegelpassage: In der haben sich zwei Männer und eine Frau durch einen Spalt zwischen Spiegel und Schräge geschoben - bis zur Hüfte, so dass es aussieht, als säßen sich selbst gegenüber. Dann absolvieren sie eine lange Folge von Bewegungen, immer mit einem Auge kontrollierend auf ihrem Spiegelbild: Qual, wenn’s nicht hinhaut, Freude, wenn’s stimmt. Schließlich kreiselt Pärts Musik um sich selbst, ebenso scheint’s mit der Choreografie zu sein. Zu bewundern bleibt der Einsatz der Tänzer.

Bedauerlich ist, dass bei den drei aufgeführten Werken die Interpreten nicht genannt werden. Und dass die Pausen zwischen den Stücken elend lang sind.

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