José Martinez' Griff nach dem Paradies

„Les Enfants du Paradis“ beim Ballett der Pariser Oper

Paris, 02/11/2008

Großartige neue Handlungsballette sind rar – Stuttgarts jüngster „Hamlet“-Versuch ist nur ein Beispiel dafür, wie schwierig es ist, heutzutage verständlich und halbwegs originell zu erzählen. An Versuchen, den John Neumeier von morgen zu finden, mangelt es keineswegs, und die Inspirationen sind vielfältig. In Paris hatte jüngst ein Ballett nach Marcel Carnés Film „Les Enfants du Paradis“ („Kinder des Olymp“) Premiere, zur Auftragsmusik von Marc-Olivier Dupin und in der Choreografie von José Martinez.

Martinez, ein glänzender Danseur Etoile der Kompanie, hat die Magie des Aufführungsortes, des prunkvollen Palais Garnier, ideenreich dazu genutzt, aus dem Abend ein Gesamtspektakel für das Publikum zu machen. Schon auf der Treppe wird der Zuschauer vor der Vorstellung von trommelnden Schaustellern begrüßt, in der Pause gibt es eine „Othello“-Aufführung in der Aufführung (mit Miteki Kudo als wundervoller, auf den Marmorstufen ausgestreckter Desdemona), Flugblätter fallen von der Decke, Proben mit dem Choreografen und Tänzern in Trainingskleidung vor dem 2. Akt lassen die Vorstellung wie ein „work in progress“ erscheinen und die Tänzer mischen sich bei mehreren Gelegenheiten unter die Zuschauer. Doch was zwischen diesen Divertissements auf der Bühne geschieht, zeigt trotz aller klugen Einfälle und trotz Martinez ausgeprägtem Sinn fürs Theater, dass er sich als Choreograf noch am Anfang seiner Karriere befindet.

Vor allem der erste Teil bleibt sehr nahe am Film, was auf Kosten des Tanzes und der Verständlichkeit ab einer gewissen Entfernung von der Bühne geht. Die getanzten Passagen sind größtenteils eine gut ausgewählte Mischung aus verschiedenen der Kompanie bekannten Stilen von Neumeier bis Mats Ek. Erst im zweiten Teil kommt der Tanz zu seinem vollen Recht, unter anderem in einem etwas zusammenhanglos eingefügten, stark balanchinesken Ballett im Ballett, das dem aufsteigenden Schauspieler (hier auch Tänzer) Frédérick Lemaître (Alessio Carbone) die Gelegenheit bietet, einiges an Feuerwerkstechnik zu zeigen. Baptiste (Mathieu Ganio) hingegen hat weniger zu tanzen und muss seinen Part hauptsächlich durch Pantomime und Mimik füllen, was er mit Hingabe tut. In seinem letzten Pas de Deux mit Isabelle Ciaravolas langgliedriger, zerbrechlicher Garance wird nach zahllosen Wirren und missglückten Paarungen ein kurzer Moment der Harmonie erreicht, bevor die scheinbar für einander Bestimmten endgültig getrennt werden.

Unter den anderen Interpreten verdienen Benjamin Pech als finster kriechender und schleichender Lacenaire, Christophe Duquennes gewollt fader Comte de Montray, Caroline Bances wespenartig aufgeregte Madame Hermine sowie Muriel Zusperreguy in der undankbaren Rolle der Baptiste nervenaufreibend umgarnenden Nathalie Erwähnung.

Marc-Olivier Dupins Musik, die größtenteils einem Stummfilm entstammen könnte, begleitet das Geschehen passend und meistens angenehm, aber ohne viel Persönlichkeit. Reizvoll hingegen sind Agnès Letestus Kostüme, die zusammen mit Ezio Toffoluttis Bühnenbild dem Stück seine besondere optische Identität verleihen. Vielleicht hatte José Martinez zuviel Respekt vor Carnés Kultfilm, um ein ganz eigenständiges, zeitgemäßes Tanzstück daraus zu machen, doch zeigte er in seiner Gesamtkonzeption des Spektakels den Willen, eigene Wege zu gehen – dies sollte er in seinen nächsten Werken noch entschiedener tun.

www.operadeparis.fr

 

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