Kein Märchenton

„Cinderella“ von Jörg Mannes

Hannover, 16/11/2008

Ein lockeres Sahneschnittchen, gerade rechtzeitig zur Vorweihnachtszeit, serviert Jörg Mannes in Hannover mit seiner neuen Produktion „Cinderella“, in der er sein ansehnliches Ensemble in Gänze auf die Bühne bringt. Mannes ändert einiges am Originalgeschehen, lässt etwa die vier Jahreszeitenfeen weg, wertet die Rolle des Vaters auf, führt die verstorbene Mutter Cinderellas prominent ein und verwandelt die gute Fee in einen Mann. Ansonsten erzählt er die bekannte Geschichte ziemlich geradlinig in einem heutigen Umfeld. Seine Tänzer folgen ihm auf dem Weg mit Verve, sei es in Schläppchen (1. und 3. Akt), sei es in Spitzenschuhen (selbstredend nur die Frauen im Ballakt). Sie behaupten sich in Mannes’ eigentümlich zersplittertem Idiom, mit dem er ein Wechselspiel treibt: Aus klassisch grundierten Positionen wechselt Mannes über in gekippte, quasi aus der Form geratene moderne Bewegungen und umgekehrt. Einen individuellen Stil – wie ihn sein Vorgänger Stephan Thoss auf gänzlich andere Art hervorbrachte - hat er daraus noch nicht entwickelt. Auffallend seine sensible Musikalität, die den Klangwindungen der Vorlage folgt, ohne sklavisch jeden Takt in Schritte umzuwandeln.

Den Märchenton meidet Mannes. Er setzt im 1. und 3. Akt auf einen Schrank als Überraschungsbox, aus der etwa die Fee auftaucht oder die Mutter zu sehen ist, auf der Cinderella sich vor der Welt versteckt oder sie beobachtet, auch mal im Sitzen tanzt. Trefflich lässt sich darüber spekulieren: Das Möbel gewordene Unterbewusste? Scharf konturiert trifft Mannes den grotesken, virtuos unbeholfenen Drang der beiden Stiefschwestern Skinny (Cássia Lopes) und Dumpy (Emma Jane Morton) zu Höherem, sprich den Prinzen. Ihre Zickigkeiten gegenüber Cinderella (Catherine Franco) sind bösartig, aber nicht unbarmherzig grausam. Franco wirkt robust, kann offensichtlich wohl einen Knuff vertragen. Sie ist eher kämpferisch als tragisches Opfer.

Die tragische Ebene wird auch nicht durch die Erscheinung der verstorbenen Mutter erreicht, die lyrisch über die Fläche schwebt. Karine Seneca verkörpert sie mit endlosen weit aus schwingenden Armen, langer Körperlinie und weicher Phrasierung. Da Mannes ihr aber kaum Entwicklung im choreografischen Material einräumt, bleibt sie eindimensional. Wie der schwache Vater, dem Marco Boschetti, mit feiner Technik begabt, eine gewisse hilflose Wehmut verleiht. Wenn Mutter und Vater kurz vor Schluss zum Pas de deux zusammenfinden, was wohl die Bewältigung der Traumata auch der Tochter sein soll, dann freut man sich an dessen exzellenter Ausführung, vermisst aber die tieferen Gefühle. Das liegt auch an Jörg Mannes, dem keine langen Steigerungen, Verdichtungen gelingen.

Wie auch im finalen Liebesduo von Prinz und Cinderella, dem die Innigkeit abgeht, von Leidenschaft ganz zu schweigen. Catherine Franco hat dazu eine Neigung zu runden Schultern, die den Armen nicht das freie Spiel gestatten, sie agiert solide bis sehr gut (in den hoch fliegenden Sprüngen), kraftvoll, pumperlgesund. Wenn sie die Hand zum Munde des Prinzen führt, missrät ihr die eigentlich zärtlich gemeinte Geste zur bloßen Bewegung. In ihrem schlicht geschnittenen Kleid (Kostüme: Lenka Radecky) sieht sie hübsch aus, aber nicht überwältigend. Denis Piza gelingt ein fulminanter erster Auftritt mit gut platzierten hohen Sprüngen und Drehungen, wunderbar kontrolliertem Rücken, er präsentiert sich als Prince charming vor der Ballgesellschaft. So glatt bleibt er, auch bei der angeblich auflodernden Liebe zur Cinderella auf dem Ball. Moriel Debi, in knappem Oberteil und Slip, tanzt die/der Fee(erich) geschmeidig mit animalischer Anmutung und einem Hauch von androgynem Flair. Auch bei ihm fehlt das märchenhafte Fluidum, er ist weniger Fee, mehr Naturwesen. Die Verwandlung von Cinderella durch die Fee findet nicht auf der Bühne statt, lediglich eine endlos lange Stoffbahn, goldfarben, wird um sie gewickelt – Vorhang...

Die Bühne (Florian Parbs) wird pfiffig unterteilt durch hintereinander geordnete Hänger, die wie Giebelwände eines Hauses geformt sind. Sie lassen sich seitlich aufziehen und zusammenschieben, öffnen oder schließen dadurch Teile der Bühnenfläche nach hinten. Ein Kronleuchter – gegen Mitternacht beginnt er katastrophisch hin und her zu schwingen - hängt zum Ball herab im Saal, der kein königliches Gepränge aufweist. Der Prinz kommt mehr oder weniger im Alltagsanzug, während die Frauen in bunten Kleidern anregende Farbpunkte in die Szene tupfen. Bei den Ballgästen zieht Mannes vom Leder. In immer neuen Gruppierungen platziert er die Tänzer im Raum, entfacht immer wieder den oft komischen Kampf der Hofdamen um den begehrten Prinzen, der fast erdrückt wird von kaum je holder Weiblichkeit. Daraus entwickelt sich ein munteres Treiben, angenehm und unterhaltsam anzuschauen.

Die Kompanie schlägt sich wacker bei den manchmal komplexen Abläufen, hier und da fehlt noch die letzte Abstimmung, das stört jedoch kaum. Die Stimmung einer aufgedrehten, teils durchgeknallten Gesellschaft schwappt in den Zuschauerraum. Nachdem der Prinz alle Länder durchstreift hat auf der Suche nach Cinderella und dem komplementären Schuh, nachdem er den orientalischen Tanz der zerbrechlichen Keiko Nisugi im flatternden Gewand sah, den Versuchungen von Anastasiya Bobrykova, Steffi Waschina und Wendy Paulusma (mit weich rollenden Hüften und knackigen Popos) widerstanden hat, landet er schließlich im Happy End. Doch nein, dem „Ende gut, alles gut“ des Märchens misstraut Mannes gründlich: Kaum ist der nicht enden wollende Vereinigungs-Kuss vollzogen, schweben Babys im Dutzend aus dem Bühnenhimmel herab, lösen ein hektisches Hin- und Hergelaufe der beiden nach dem Nachwuchs aus. Der Ehealltag hat sie schnell eingeholt.

Liebevoll musiziert das Orchester unter Lutz de Veer mit Sorgfalt im Detail: Die Märchenstimmung, die auf der Bühne fehlt, steigt aus dem Orchestergraben empor. Prokofjews sämige Musik von 1945 erreicht nicht die Prägnanz seiner früheren „Romeo und Julia“ Komposition, muss einige Durststrecken durchstehen, besticht aber durch einige mitreißende Stellen wie die Themen der Cinderella oder die Mitternachtsmusik. Hilfreich ist die Reihenfolge der Nummern im Programmheft aufgeführt: Vorbildlich. So kann jeder Tanzinteressierte zu Hause am CD-Player die Veränderungen, Umstellungen nachhören mit dem Bild der Aufführung vor dem inneren Auge.

 

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