Der Sog der verbotenen Zone

„Fürchtet euch nicht“: Verena Weiss’ Abschied von Luzern

Luzern, 09/03/2009

Fünf Jahre lang war Verena Weiss am Luzerner Theater engagiert. In dieser Zeit brachte sie neun Tanztheater-Stücke zur Uraufführung. Ihr letztes heißt „Fürchtet euch nicht“. Ein schwieriges, aber tiefgründiges und suggestives Werk.

Als wichtigste Inspirationsquelle nennt Verena Weiss den russischen Film „Stalker“ von Andrej Tarkowskij aus dem Jahr 1979. Ein Fährtenleser (so der ursprüngliche Sinn von Stalker), ein Schriftsteller und ein Dichter erkunden verbotenes Land – eine Zone voller Rätsel und Gefahren. Geschundenes Land auch, wo sich die Natur immerhin ein Stück weit zurückkämpft. Und wo sich ein Raum befindet, in dem sich angeblich die tiefsten Wünsche erfüllen. Die drei Forscher spüren den Ort auf, betreten ihn aber nicht. Wer den Film „Stalker“ nicht kennt, was wohl auf viele zutrifft, kann die Details in Weiss’ Tanztheater nicht immer entschlüsseln. Was bedeuten der Schatten, das hinkende Mädchen, die abgeschnitten wandernden Beine hinten in einer Spalte der Wand? Man weiss es nicht. Trotzdem gelingt es der Choreografin, die zusammen mit ihren fünf Tänzerinnen und vier Tänzern das Stück erarbeitet hat, ihm Leben einzuhauchen. Die Körpersprache der Mitwirkenden drückt Mut, Zorn, Neugier aus, auch Angst vor Verlust und Einsamkeit – mit ausholenden Schritten, lauernden Posen, Zusammensinken, Aufgefangenwerden. Die Männer lassen ihre Körper erschauern, die nur sporadisch auftretenden Frauen zeichnen mit ihren Armen mondsüchtige Bilder in die Luft. Das behinderte Mädchen knickt zwar immer wieder ein, hadert aber nicht mit dem Schicksal, sondern scheint darin einen Sinn zu erkennen.

Das Bühnenbild (Birgit Angele) verstärkt die symbolträchtige Atmosphäre, die der Tanz evoziert. Es zeigt eine Landschaft mit einem trockenen Gras- oder Schilfstreifen, der sich in geschwungener Diagonale von vorn links nach hinten rechts zieht. Linien und schwarze Balken streben auf einen Schnittpunkt in der Ferne zu. Dort öffnen sich zuweilen Blickfenster ins Weltall. Im Kontrast zu diesem abstrakten Raum steht hinten auf der Bühne ein ganz winziges Tischchen mit Häkeldecke, das wohl auf die kleinbürgerliche Herkunft der drei Männer hinweist.

Die Struktur der verbotenen Zone regt zu vielerlei Assoziationen an. Man denkt nicht nur an gesperrtes Militärgebiet vor oder nach einem Krieg. Sondern auch an die russische Steppe, in die ein Meteorit eingeschlagen hat. Oder gar an einen atomverseuchten Landstrich. Doch die Hoffnung ist nicht tot. Nicht nur die zerstörte Natur versucht sich zu regenerieren. Auch in den Menschen regen sich wieder Gefühle von Mitleid und Liebe. Die Musikcollage zu „Fürchtet euch nicht“ stammt von David Morrow, einem engen Mitarbeiter William Forsythes. Auch für Verena Weiss hat Morrow schon öfter komponiert. Diesmal vermischt er Wohlklang und Misstöne mit Naturgeräuschen oder Industrielärm. Er verwendet auch armenische Gesänge und setzt Wortzitate aus dem „Stalker“-Film ein, inklusive solche der apokalyptischen Art. Leider versteht man sie schon rein akustisch nicht gut.
So verabschiedet sich Verena Weiss mit einem eher schwierigen Tanztheaterstück von Luzern. Ein Kontrast zu ihren letzen beiden Produktionen von 2008, die vorwiegend heiter waren und mit wunderbaren Live-Musikern arbeiteten: „Klezmer“ mit David Orlowskys Klezmorim und „Amaryllis my Love“ mit dem Basssänger/ Lautenisten Joel Frederiksen (Verena Weiss’ Lebenspartner) und dem Gambenspieler Domen Marincic.

Ende dieser Spielzeit verlässt Verena Weiss das Theater Luzern. Intendant Dominique Mentha, der sie ab 2004/05 engagierte, wollte ihren Vertrag nicht verlängern. Er anerkenne zwar die künstlerische Qualität ihrer Tanzproduktionen, sagt er, doch wünsche sich für die Zukunft eine vielseitigere Tanzpalette. Neu engagiert sind ab nächster Saison Kathleen McNurney als künstlerische Leiterin, die aber nicht selber choreografiert, Oliver Dähler als Ballettmeister/ Hauschoreograf und Brigitte Knöss als Dramaturin. Das neue Tanzensemble umfasst zwölf Tänzerinnen und Tänzer, wovon nur drei aus Weiss’ bisheriger Gruppe stammen. Für 2009/10 hat das Luzerner Theater punkto Tanz „mehr als ein halbes Dutzend Uraufführungen“ versprochen. Sie sollen von vorwiegend jungen Choreografen und Choreografinnen aus dem In- und Ausland stammen; diese Leute zu finden, gilt als eine der Hauptaufgaben von Kathleen McNurney. Zeitgenössischer Tanz in vielen Variationen, aber ohne Ballett im engern Sinn, ist angesagt. Man hofft auf ein Publikum, zu dem auch Schüler gehören. Verena Weiss ihrerseits will zuerst Atem schöpfen, bevor sie neue Arbeitsmöglichkeiten sucht.

„Fürchtet euch nicht“ bleibt bis 3. Mai auf dem Programm.
www.luzernertheater.ch

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