The Forsythe Company: „Sider“

The Forsythe Company: „Sider“

Nonverbale Kommunikation via Requisit

In Hellerau amüsiert und imponiert William Forsythe mit „Sider“

Dresden Hellerau, 21/06/2011

Uraufführungen von William Forsythe waren über Jahrzehnte stets ein tänzerisches Großereignis. Was er von Mitte der 1980er bis Anfang des neuen Jahrtausends fürs Frankfurter Ballett kreiert hat, gehört heute zum goldenen Fonds der Ballettmoderne, findet sich im Repertoire führender internationaler Kompanien. Keiner hat wie er dem klassischen Kanon unerwartete Aspekte, Wendungen und Erweiterungen abgeluchst, keiner dessen Bewegungsvorrat so radikal reformiert und ergänzt. Nichts schien mehr unmöglich. Freilich erschöpft sich die konsequenteste Recherche, Forsythe selbst scheint das erkannt zu haben. Seither, nicht zuletzt durch den tragischen Tod seiner Frau, ist er unterwegs zu anderen Ufern. Installationen sind das einerseits, etwa „You made me a monster“ als respektvolle Reaktion auf jenes Sterben, andrerseits politisch eingreifende Stücke, so „Human Writes“ als intelligente Versinnbildlichung des schweren Wegs hin zu wirklicher Akzeptanz der Menschenrechte. Sie, die großflächige, begehbare Installation „Human Writes“, entstand bereits für das Festspielhaus Hellerau, wo die 2005 frisch formierte Forsythe Kompanie einen ihrer Standorte hat. Dort musste und muss sie sich auch ein neues Publikum schaffen, denn ihr Repertoire, bei Auslandsgastspielen emphatisch gefeiert, ist im deutschen Osten noch nicht so populär.

„Sider“ heißt, wieder in letzter Minute so benannt, die bislang lediglich als „Neuproduktion“ annoncierte Schöpfung des 1949 geborenen US-Amerikaners. Dass bereits die zweite Vorstellung mau verkauft war, sollte die Werbestrategie mit unklarem Titel und Inhalt zur Diskussion stellen. Thematisch knüpft das Spiel mit den Vokabeln Insider und Outsider ohne deren Präfix an ein Vorgängerstück an: Auch „Yes We Can’t“ von 2008 arbeitete sich an der Unmöglichkeit verbaler Aussagen ab. Genauso dicht und witzig, indes stringenter noch zeigt sich das in „Sider“. Hier kommunizieren die Gestalten nur noch mittels zentimeterdicker Papprechtecke. Ihre Wortdialoge versacken in hingenuschelten, herausgepressten Tiraden, in denen man englische Brocken zu vernehmen meint, oder einfach in Lautgebilden. Auf hellem Grund liegt eingangs eine jener Platten, zwei bilden daneben eine Art Dach. Drei Tänzer nehmen sofort die Pappen als Partner auf: Der eine liegt auf der Schulter, erkundet mit Minimalrutschern die Fläche, die andere verändert in Raumerkundung das Plattendach, der dritte mit verhülltem Kopf treibt mit seiner Pappe den Rutschenden vor sich her oder folgt dessen Bewegung, als male er Muster auf den Boden. Ein Vierter in Ganzrosa hält seine Platte mit der Aufschrift „in disarray“, steigert in der Tat die Unordnung, indem er hinter der Pappe unaufhörlich brabbelt, sich mit ihr bedeckt, nur noch die Hand gestikulierend vorlugen lässt.

Aus kleinen und größeren Formationen fügt Forsythe ein Puzzle aus Pappbewegern, über denen Spencer Finch seine linienhaft angeordneten Neonreihen ihr Licht, meist in Regenbogenfarben, aufzucken und eindunkeln lässt, Thom Willems äußerst sparsam Leisegeräusch ausschüttet. Wählt Dorothee Merg das Trikot als Grundmodell, hat sie es doch oft im Stil der commedia dell’arte oder mittelalterlicher Gaukler clownesk drapiert: mit Röckchen, Halskrause, Kappen, Gesichtsverhüllung. So tapsen Figuren eines Volkstheaters über die Szene, fast immer im Verein mit ihren Platten, die sie virtuos zu hantieren wissen, mit denen sie dribbeln und so Rhythmus erzeugen, die sie geschäftig drehen, weiterreichen wie Wörter, aus denen Sätze entstehen. So wandert der Pulk durch den Raum, stoppt wie nach langer Rede, um neu zu beginnen.

Blickkontakt sichert die Verbindung; wenn das Tempo steigt, kommt es zu perfekten Ausweichmanövern, elegant und verblüffend. Das verändert stetig die Raumverhältnisse und bietet vibrierende Bilder, denen das häufige Gebrabbel auch groteske Momente beimischt. Oft entstehen durchs fortwährende Umschichtwerk skulpturale Gebilde, bewegte Installationen.

Ein Mann schiebt mit seiner Platte eine Frau vorwärts, sie stemmt sich dagegen in kraftvollem Wanderprozess, bis sie den Vorgang umkehren kann: Sie treibt nun den Schimpfenden zurück. Der nächste Mann deckt ihn mit einer Pappe zu, sucht ihn ganz zu verbergen, doch der Gequetschte quillt immer wieder vor. Als die Platte fortgezogen wird, setzt der Liegende, einmal in Gang gekommen, sein Knoten des Körpers auf schier unglaubliche Weise fort, ein Höhepunkt von Forsythes Bewegungsrecherche an diesem Abend. Um die Verwirrung zu komplettieren, tauchen projizierte Schriftzüge auf: „she is to them as they are to us“ wechselt zu „they are to us as we are to them“; „is, or isn’t“ verkündet auf seiner Pappe der in Ganzrosa. Als die Spieler einander per Platte den Weg versperren, so den Raum des Anderen eingrenzen, fällen Klangschläge wie eine Guillotine in Geschehen ein. Nur selten entstehen direkte Körperkontakte, das Requisit bleibt verbindendes Medium. Ein Paar tarnt Liebe hinter Pappe, ruckelt so ab; eine Frau taumelt zwischen um sie geschobenen Platten wie ein Boot zwischen Flößen. Das Finale zu schwellender Musik setzt mit labyrinthischen Klappungen der Plattenplayer ein, die Umgriffe erzeugen Eigenrhythmus, Gesang einen gebetähnlichen Chorus. Einzeln lassen sie die Pappen fallen und gehen ab. Der Epilog kehrt zum Beginn zurück: Den Minimalrutscher birgt mit ihren Platten die Frau; der in Ganzrosa räsoniert wieder. Mit dem Schriftzug „and they weren’t“ hebt Forsythe das Hehre ins hintersinnig Verulkte auf. Vorzügliche 13 Tänzer mit brillanten Soli tragen sein Konzept, natürlich ohne Spitzentanz, dafür mit demonstrativen Anti-Ballett-Positionen etwa der Füße.

Wieder 22.-25.6., Festspielhaus Hellerau

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