Sie leben als Feinde, sie sterben als Menschen

Christian Spucks ungewöhnliche Sicht auf Prokofjews „Romeo und Julia“

Zürich, 22/10/2012

Nicht nur die Sicht des Choreografen, der mit dieser Arbeit seinen programmatischen Einstand als neuer Ballettchef in Zürich gibt, ist ungewöhnlich. Michail Jurowskis musikalische Interpretation mit der Philharmonia Zürich ist es auch. Ein solches Ballettdirigat, ein solches Musizieren setzt Maßstäbe. Mit den ersten Takten wird die Richtung angegeben, hart und unerbittlich. Jurowski beginnt mit dem verstörenden Vorspiel zum dritten Akt, mit den harten Klängen als Vorausahnung dessen, was kommen muss, auch wenn dann mit der Einleitung zum Beginn des ersten Aktes zunächst doch freundlich gestimmte Passagen heiterer Verspieltheit anklingen. Über allem aber liegt bereits der bedrohliche Schatten. Der lässt sich nicht vertreiben. Musik und Tanz, Klang und Bild und Raum verschmelzen zu einer Einheit des dramatischen Geschehens wie man sie so nicht allzu oft erlebt. Christian Schmidts dunkler Bühnenraum assoziiert ein mehrfach umgestaltetes und umgewidmetes, wahrscheinlich sogar ursprünglich sakrales Gebäude. Jetzt, darauf verweisen nicht zuletzt die eingebaute Technikgalerie und Kleiderständer mit Kostümen, könnte es ein Probenraum für Tanz und Theater sein. Ein Raum also, in dem die Utopien, gleich aus welchen Quellen sie ihre Kraft beziehen, zusammentreffen und sich verbinden, bestenfalls sogar verbünden.

Philippe Portugal als Pater Lorenzo versucht mit einer Spielregel den verfeindeten Gruppen der Capulets und der Montagues ihre Räume zu geben. Ein weißer Kreidestrich auf schwarzem Boden mitten durch den Raum soll helfen. Platz und Raum auf jeder Seite wäre für alle. In den Kostümen von Emma Ryott, die üppige Zitate der Renaissance vergegenwärtigt, aber sind die „Feinde“ kaum zu unterscheiden, wenn sie zunächst zum Gruppenbild in ihrer eigenen Erstarrung gefrieren. Dann wird die Grenze überschritten. Kämpfe, die ersten Toten. Als wollte er ein Zeichen setzen formt Lorenzo aus den gemordeten jungen Männern ein Kreuz auf der Linie, die im Verlauf des Dramas weggewischt wird. Und so knapp wie eindrücklich auf beiden Seiten ein Augenblick des Entsetzens: aufgerissene Münder, ein gewaltiger stummer Schrei. Jetzt als Tote sind aus Feinden Menschen geworden. Später wird Christan Spuck die Kraft eines solchen Symbols noch einmal beschwören, wenn der so heitere wie ungezügelte Egor Menshikow als Romeos Freund Mercutio von Tybalt, dem Neffen ihrer Mutter, getanzt von Cristian Alex Assis, getötet wird und Romeo darauf Tybalt mordet. Keine Eulenspiegelei des sterbenden Mercutio, kein die Musik übersteigerndes getanztes Pathos beim Tod des Tybalt. Selten gelingt die Klagegebärde so innig, weil zurückgenommen, wie hier mit Eva Dewaele als Gräfin Capulet.

Dabei waren Romeo und die Seinen bereits eingestiegen in die Gesellschaft der Anderen, maskiert zwar, aber beinahe gern gesehen mit ihren Späßen, mit ihrer Fröhlichkeit und ihrem Übermut. Und dabei hatte Julia ihren Romeo schon gesehen und konnte den Blick nicht mehr von ihm lassen. Und er, der bislang ungezähmte, war entzündet vom Feuer eines bislang ungekannten Gefühls. Katja Wünsche als Julia in ihren roten Kleidern durchbricht die Dunkelheit der Szenen. Sie ist zudem nicht das trippelnde Kind, sie ist eine junge Frau und daher so stark in ihrem Gefühl, in ihrem Willen, in ihrer List den Zwängen zu entkommen und in ihrer Lust, die diesem Romeo gilt. Mit ihm könnte sie die Grenzen aufbrechen. Und William Moore in gewandter Jungenhaftigkeit, sportiv und elegant zugleich, mit weichem Kern unterm schicken Obergewand, das an ein Panzerhemd erinnert. Mit ihm wird sie federnd springen, von ihm wird sie getragen und leicht den Raum durchfliegen, gänzlich verwandelt, ganz anders als an der Seite des für sie von den Eltern bestimmten Grafen Paris, den Jan Casier mit strengem Scheitel so wunderbar tragikomisch tanzt. Romeo und Julia werden ihren Schwebezustand noch einmal erhöhen am Morgen nach der Liebesnacht, wenn sie ihn halten möchte und er schon in Gedanken auf der Flucht ist. Katja Wünsche und William Moore tanzen jetzt so differenziert und sensibel, dass man meinen möchte, sie zitierten schon lediglich den Glückszustand, weil sie um den Verlust schon wissen könnten.

Können Tricks und Finten helfen? Sie können es nicht, und man müsste ein Herz von Stein haben, wenn alles, was nun folgt uns nicht zutiefst berührte. Gerade weil diese Julia alles andere ist als ein naives Mädchen, gerade weil dieser Pater Lorenzo um die Unmöglichkeit seines Unterfangens wissen müsste, soll doch kein Versuch ausgelassen werden, einmal, auf der Bühne zumindest, die Welt auf den Kopf zu stellen. Aber mit dem Tod ist nicht zu spaßen und was ist es anderes als das, wenn Julia den Schlaftrunk nimmt, den Tod vortäuscht, um gerade durch den Tod, und sei es eben auch ein vorgetäuschter, ins Leben zu fliehen. Für Romeo ist die Schlafende gestorben, er will ihr nach und nimmt das echte Gift. Und jetzt, das hat man selten so beeindruckend gesehen, erwacht Julia. Romeo ist noch nicht gänzlich tot, ihr Kuss wirkt als wollte sie das Gift von seinen Lippen saugen. Vergeblich. Ihr bleibt die harte schmerzvolle Art zu sterben: sich zu erstechen mit Romeos Messer, das er in dieser Inszenierung verborgen, da nahe am Körper trug. Kein Widerspruch, es wäre keine glaubhafte Utopie, wenn wie wohl Shakespeare nur ironisch auf die Idee gekommen ist, am Grab der Kinder die Eltern zur Vernunft zu bringen. Für Christian Spuck ist im letzten Moment des Dramas kein Platz für Andere als für Romeo und Julia, für den Abschiedsklang der Musik und uns als Zuschauer, die mit dem was sie erlebt haben zurechtkommen müssen.

Eingebettet hat er das Drama in opulentes Tanzgeschehen, auch wenn er auf buntes Marktreiben und folkloristisch springende Tanztriaden verzichten kann. Auf große Bilder, auf den Humor der lustvoll kuppelnden und gewitzt agierenden Amme einer Tänzerin wie Viktorina Kapitonova müssen wir nicht verzichten, auf die Anmut der Tänzerinnen auch nicht und auf die ausgelassenen Passagen der Tänzer als gekrönte Narren auch nicht.

 

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