Hommage an die Revolutionäre des Tanzes

Semperoper Ballett Dresden: „Les Ballets Russes – Reloaded“

Dresden, 25/06/2012

Es ist zunächst ein Abend musikalischer Überraschungen und höchst erfreulicher Wiederbegegnungen. Verlockung und Verlangen, zart getupfte Klänge, unbestimmtes Zittern und Zagen in der Musik „L´ Après-Midi d´un Faune“ von Claude Debussy aus dem Jahre 1894. Die Sächsische Staatskapelle unter David Coleman vermeidet glücklicherweise ein oft zu vernehmendes Missverständnis watteweicher Interpretationen bei Ballettaufführungen.

Von kammermusikalischer Feinheit und nobler, lichtvoller Eleganz dann der Klang der Kapelle in Igor Strawinskys Hommage an die Formen des Klassizismus in seiner Ballettmusik „Apollon Musagète“, 1928 für George Balanchines Choreografie „Apollo“ aus dem gleichen Jahr.

Ein musikalischer Triumph zum Schluss: zur Uraufführung ein Skandal, inzwischen ein Hit im Ballett und im Konzertsaal, „Le Sacre du Printemps“ von 1913. Mit dem beherrschenden Klang der Bläser und des Schlagwerkes, kurzen, jähen Veränderungen, Triebkraft und Rhythmus, für den Tanz, in letzter Konsequenz, ob absoluter Hingabe der Tänzerinnen und Tänzer in solch extremer Form, performatives Sinnbild für jede Art von Opfern. Strawinskys Komposition aus dem Jahr 1923 „Les Noces“ für vier Klaviere, sechs Schlagwerker, Chor und Solistenquartett hört man selten.

Er schrieb diese Musik für Serge Diaghilews Les Ballets Russes, ließ sich von russischen Gesängen und Riten inspirieren. 1923 wurde das Ballett „Die Hochzeit“ in der Choreografie von Bronislawa Nijinska in Paris uraufgeführt. Jetzt wird mit „Noces“ als Erstaufführung von Stijn Celis eine am Ende grandiose Hommage der Dresdner Kompanie an die russischen Revolutionäre des Tanzes eröffnet. Ursprünglich ein Handlungsballett, kann man in der neuen Interpretation bestenfalls knappe Sequenzen einer Handlung erkennen. Vorherrschend gelingen dem Choreografen kraftvolle, ritualisierte Szenen einer Gruppe von Frauen und Männern, sowohl jeweils untereinander, als auch miteinander und immer wieder gegeneinander. Drei Duette variieren Momente des Mit- und Gegeneinaders von Männern und Frauen. Höhepunkte sind starke Gruppenrituale in denen die Individuen aufgehen.

Für seine handlungsorientierte Choreografie „Faun“, zur Musik Debussys hat Jiří Bubeníček in der Ausstattung seines Bruders Otto nach zugespieltem Angelusläuten das „Agnus dei“ aus der „Messe en sol majeur“ für Sopransolo und Chor von Francis Poulenc vorangestellt. Die stilisierte Szene ist ein Knabeninternat unter Aufsicht eines geistlichen Würdenträgers, dessen faunische Lust einem der Zöglinge gilt. Was folgt ist dann zur Originalmusik − unter Verwendung von Bewegungszitaten des Tänzers und Choreografen Vaslav Nijinskys − eine gegenwartsbezogene, von so starken wie persönlich engagierten Emotionen gezeichnete Missbrauchsschilderung. Tänzerisch ein grandioses Trio, Raphaël Coumes-Marquet als Verführer, Claudio Cangialosi als Traum- oder Wahnvision einer so unbeteiligten wie unbesiegbaren Faunsfigur und Jón Vallejo als Tänzer des Opfers mit der ergreifenden, aufwühlenden Gestaltung einer Schlusssequenz zerbrochenen Lebens.

Nach kurzer Pause dann der Tänzer Jiří Bubeníček in George Balanchines Meisterwerk der Neoklassik „Apollo“: Bubeníček als Sohn des Zeus, in der Begegnung mit den Musen Calliope, Polyhymnia und Terpsichore (Julia Weiss, Svetlana Gileva und Natalia Sologub). Balanchines kunstvolle Formen, seine in vielen Varianten bis heute verwendeten Bilder, sein subtiler Humor, Strawinskys Musik und vor allem die Meisterschaft der exzellenten Dresdner Solisten bescheren dem Publikum Glücksmomente neoklassischer Tanzkunst.

Zum Schluss des opulenten Abends „Le Sacre du Printemps“, als Uraufführung des Choreografen Jocopo Godani knapp nur noch „Sacre“. Von den „Bildern aus dem heidnischen Russland“ − wie „Das Frühlingsopfer“ ursprünglich im Untertitel hieß − ist schon lange nicht mehr die Rede. In immer neuen Varianten versuchen sich die größten Choreografinnen und Choreografen an diesem Stück, das bei seiner Pariser Uraufführung 1913 einen der heftigsten Skandale verursachte.

Godani interessiert nur noch das Opfer, daher die Verknappung des Titels. Er braucht dazu keine Geschichte. Er braucht eine Gruppe von Menschen, fünf Tänzerinnen, sieben Tänzer, alle mit martialischen Ledergurten über angleichenden Kostümen am Oberkörper versehen. Zunächst eine amorphe Gruppe, dann Hände, Arme, Menschen wühlen sich aus der Masse bis die Bewegung alle erfasst. Typisch sind immer wieder hochschnellende Arme und das brutale Abknicken der Hände, wobei es zu verstörenden Verdrehungen der Körper kommt, worin man wiederum indirekte Zitate des Originals Nijinskys wahrnehmen kann. Godanis Tänzerinnen und Tänzer reagieren aufeinander, sie folgen der musikalischen Dynamik und auch der dabei immer stärker werdenden Vehemenz ihrer eigenen Körper. Da geraten sie aneinander, da zeigen sich Konkurrenzen, Anziehung und Abstoßung, zärtliche Berührung und gleich darauf Gewalt und Unterwerfung. Es ist als Folge diese Choreografie einer unheilvollen Entwicklung, als gehe sie der Frage nach was geschieht, wenn Menschen, die sich als unfreie Opfer begreifen, in den Sog unaufhaltsamer Gruppendynamik geraten. Viele Fragen, kaum Antworten. Das ist gut so, dass Godani auch mal augenzwinkernd Forsythe zitiert: Warum soll da nicht auch mal ein schwarzer Vorhang herunter und wieder herauf gehen? Manche Fragen beantworten sich doch.

Keine Frage im Hinblick auf den Tanz, auf die künstlerische Potenz des Semperoper Balletts, seines Chefs Aaron S. Watkin und seiner Mitarbeiter. Da kommt die geballte Kraft einer gut präparierten Kompanie von der Bühne, die ganze Gruppe, Solisten, Duette, im Trio, im Quartett. Eine Anna Merkulova oder Carmen Piqueras kann man nicht übersehen, gleiches gilt für Raquél Martínez, Julia Weiss und Duosi Zhu und die männlichen Kollegen, auch schon gesehen an diesem Abend. Und doch noch einmal in gänzlich anderem Licht: Bubeníček, Cangialosi, Vallejo oder Michael Tucker, Francesco Pio Ricci und Fabien Voranger. Nicht zu vergessen ein Nachwuchstänzer wie Johannes Schmidt (Absolvent der Palucca Hochschule für Tanz, Elevenprogramm an der Oper, dann Engagement) in seinen Soli an diesem Abend oder in Gruppesequenzen − von so bemerkenswerter wie hoffnungsvoller Präsenz.

 

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