Proben zu „The Pioneers“

Proben zu „The Pioneers“

Mit Wut und Witz und Eigensinn

„The Pioneers“: Sechs zeitgenössische afrikanische Choreografen in Ludwigshafen

Für „Africtions“ hat Helge Letonja vorgecastete Choreografen aus sechs afrikanischen Ländern eingeladen, eine neue Produktion zu kreieren – ein Festival-Herzstück der Begegnung mit dem Tanz vom so fremden Kontinent.

Ludwigshafen, 09/11/2014

Den zeitgenössischen afrikanischen Tanz gibt es gar nicht. Natürlich nicht. Er ist genauso eine Fiktion wie es „der“ zeitgenössische europäische Tanz wäre: Auf dem afrikanischen Kontinent lässt sich der aktuelle Bühnentanz auch nicht über einen Kamm scheren. Für das Festival „Africtions“, das derzeit in Ludwigshafen (und später in Bremen) stattfindet, hat Kurator Helge Letonja vorgecastete Choreografen aus sechs afrikanischen Ländern eingeladen, eine neue Produktion zu kreieren – dabei gerieten sechs Uraufführungen an zwei Abenden zu einem Herzstück der Begegnung mit dem Tanz vom so fremden Kontinent. Den TanzschöpferInnen war indessen der Blick nach Europa allesamt ziemlich egal – die im Festival-Titel angesprochene Reibung wurde freilich bei allen spürbar. Es ist die Kluft zwischen den traditionellen Wurzeln und einer auch in Afrika rasant vorpreschenden, kulturelle Unterschiede global platt walzende Moderne. Da sei der Tanz vor!

Die Tanzmacher – egal ob aus Südafrika, Benin, Madagaskar, Tschad oder dem Kongo, hinterfragten in ihren Stücken allesamt ihr eigenes kulturelles Erbe – mit Witz und Hintersinn, Melancholie und Selbstironie, oder mit entwaffnender spontaner Selbstverständichkeit - wie das vierköpfige Ensemble um Florent Mahoukou aus dem Kongo. In „Lá oú j‘en suis (Check Two)“ hangeln sich die Darsteller rücklings von Stahlgerüsten auf die Bühne, zweckentfremden Plastikstühle als Fesseln à la Bondage, spielen auf Performances auf den Plätzen von Brazzaville an und schlagen verblüffende Bögen zwischen alten Riten und urbaner Straßenkunst: absoluter „Wow“-Effekt beim Publikum.

Wie man die Zuschauer betört und narrt und virtuos ihre Erwartungen unterläuft – das demonstrierte die südafrikanische Tänzerin und Solistin Mamela Nyamza in ihrem Solo „Wena Mamela“. Im weißen Bikini auf High Heels gab sie anfangs das Pin-up-Klischee einer (Varieté-)Tänzerin. Auf einem kleinen Podest versammelt sie ein Topfpflanzenbeet, in dem sie werkelt, wie es sich für eine afrikanische Frau gehört – bevor sie, mit einer lebensgroßen Voodoo-Puppe auf der Rückseite behängt, ihre Wut über Rollenzuschreibungen wegtobte. Ihr kleines Geheimnis flüsterte sie einem Besucher ins willige Ohr: Seit ihrem achten Lebensjahr hatte sie Ballettunterricht. Sie setzte ihre Stimme als verblüffendes Percussion-Instrument ein; der Einsatz von Händen und Füssen als Rhythmusinstrument ist ein weiteres gemeinsames Merkmal der so verschiedenartigen Stücke.

Die traditionelle Musik, in ihrem Ursprung verbunden mit Riten, Tänzen und Trance, beschäftigte die Choreografen so sehr, dass vielfach live gespielte Instrumente einbezogen wurden. Julie Iarisoa (Madagaskar) ließ sich in ihrem originellen, gegen den logischen Strich gebürsteten Quartett „Voice of Valiah“ sogar von einem traditionellen Instrument inspirieren, einer Röhrenzither aus Bambus. Für Taigue Ahmed (Tschad) ist der Zithar sielende „Griot“, ein singender Überlieferer kulturellen Wissens, sozusagen der Wegweiser für die Sinnsuche in seinem Stück „Abbanay Abbanay“. Es fragt nach der Abwesenheit der Väter in einem kriegsgebeutelten Land, wo die Söhne aus eigener Kraft Auseinandersetzung, Reibung und brüderliches Zusammenfinden leisten müssen. Spätestens, wenn er – ein hinreißender Tänzer – mit seinem Duo-Partner Rücken neben Rücken gemeinsam einer ungewissen Zukunft entgegen zittert – dann ist auf einmal zeitgenössischer Tanz hierzulande zumindest ästhetisch ganz nah.

„The Pioneers“ – so der übergreifende Titel beider Abende – machte ihrem Anspruch alle Ehre. Das eine oder andere Stück wäre auch auf einem europäischen Festival ein erfolgreicher Hingucker.
 

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