Eine Hand voll Leben!

Tanzstück von Silvana Schröder am Opernhaus Kiel

Kiel, 20/02/2007

Weiße Bühnefläche, weiße Seitenwände mit hohen, drehbaren Türen, weiße Rückwand, von oben nach unten geteilt durch einen schrägen Schnitt, weiße Stufen mit schwarzen Kanten, die flach in den fast hochgefahrenen Orchestergraben führen, ein Steg, ebenfalls weiß belegt, läuft mittig weit über die Sitzreihen in das Parkett: Der leere Raum (Bühnenbild: Andreas Auerbach) ist offen für alles. „Eine Hand voll Leben“ packt Silvana Schröder im Kieler Opernhaus da hinein, eine Neufassung ihres 2005 am Theater Greifswald premierten Stückes.

Die Schwester des Kieler Ballettchefs Mario Schröder zieht ein Spiel der Geschlechter auf, lässt Frauen- und Männergruppen (weiß und schwarz gekleidet) um einander werben, mal grob, mal zarter, wenn etwa zu Beginn die Frauen den Männern rote Socken zuwerfen, diese ihnen ihre schwarzen Shirts zueignen. Im Solopaar Elena - Fremder (Anne-Marie Warburton - Oliver Preiß) konzentriert, kondensiert sich das Geschehen der Suche nach „verzweifelter Zärtlichkeit“, wie sie die der italienische Regisseur und Autor Pier Paolo Pasolini beschwört. Expressive, oft mit scheinbar absurder Bedeutsamkeit aufgeladene Texte von ihm über das Leben werden meist von Elena und dem Fremden per Mikroport zitiert.

Elena bleibt meist Einzelgängerin, nähert sich ihr der Fremde, erstarrt sie fast, beginnt zu zittern. Die athletisch gebaute, fast androgyn wirkende Warburton verleiht ihr eine beinahe heillose Verlorenheit, ihr Gesichtsausdruck wandelt sich kaum. Immer wieder kommt es zu Kontakten mit Männern. Sie heben Elena wie ein Objekt mit präziser Sorgfalt herum, über ihre Köpfe, von einer Seite zur anderen. Sie schwebt über, liegt unter ihnen. Einmal steht sie als Subjekt auf den knienden Männerrücken. Preiß bewegt sich geschmeidig wie ein Panther, gespannt wie eine Stahlfeder. Beide kommen zusammen in einer Art Hochzeitstanz, bei dem er unter ihren weißen, bodenlangen Rock schlüpft, den er schließlich übernimmt: Weibliches und Männliches als Einheit.

Schröder formt mit ihrem kraftvollen, technisch und konditionell sehr fordernden Stil flüssig ablaufende Sequenzen. Sie verschmilzt moderne und klassische Momente zu einem über weite Strecken faszinierenden Geschehen, das auch dort fesselt, wo das Ziel nicht klar ist. Nach zwei Dritteln der anderthalbstündigen Vorstellung scheint sie sich aber festgefressen zu haben, es entwickelt sich nichts fort, läuft, rennt, rast nur weiter. Silvana Schröder, ehemals Ballettdirektorin in Altenburg-Gera, hat auch die Dramaturgie übernommen und zeigt dabei einen auffallenden Mangel an übergreifendem Timing, an stringenter Zuspitzung, Verdichtung. Auch macht sie es sich zu einfach, wenn sie den Fremden mit Koffer, dem Klischee des Reisenden, auftreten lässt, anstatt dieses Moment mit der Bewegung zu beglaubigen.

Mehr komisch als beeindruckend wirkt der Auftritt des Fremden als beflügelter Engel. Symbol der unerreichbaren Reinheit? Daunenfedern, aus einer Versenkung hervorgewirbelt, mögen ebenso gedacht sein. Humor blitzt hier und da auf. Wenn etwa je eine Frau je zwei Männer spielerisch vor sich her treibt, quasi die Macht des Weiblichen zeigt. Oder der Fremde die Bühne betritt und sich schräg auf die Ecke seines Koffers lehnt, gestützt nur von einem Arm, als starte er gleich eine Clownerie, die allerdings ausbleibt.

Schließlich schälen die Frauen im und am Orchestergraben Äpfel, als wollten sie als Evas ihren Adams verführerisch einen überreichen. Das Obst verteilen sie aber an Zuschauer. Die kraftstrotzende Attacke der Männergruppe, mit Tiefschritten und Drehsprüngen angelehnt an die Männertänze des Balkan, in der zweiten Hälfte kehrt witzig gockelhafte Züge heraus. Das offenbart die schöpferische Potenz der Schröder. Die zitierte „verzweifelte Zärtlichkeit“ taucht kaum jemals markant auf, es sei denn in der Musik (Goran Bregovic u.a.), meist folkloristisch serbisch-kroatisch getönt: Raue Melancholie in den Gesängen, brachiale instrumentale Vitalität in den pumpenden Rhythmen, die unwiderstehlich vorwärts treiben und direkt in den Unterleib gehen, überwältigend verstärkt durch rasende Bläsersätze mit unwiderstehlichem Sog.

Schlussendlich stehen die Tänzer/innen - bis auf das Solopaar - in kindlicher Verzückung in einem herabrieselnden Sternschnuppenregen, heben die Hände, um etwas von dem Segen von oben aufzufangen: eine Hand voll Leben in seliger Harmonie? Das Märchen von den Sterntalern steigt wohlig im Gemüte auf. Kitsch oder Kunst? Elena spricht Finales: „Gib dem, der dir das Herz sprengt, den Tod oder den Kuss“. Zum Vollzug, in welche Richtung auch immer, kommt es nicht, denn der Fremde verlässt die Szene über den Steg, über den er herein gegangen war. Der Kuss ginge also ins Leere, auch zum Töten wäre der Fremde zu weit weg. Die Worte tönen hohl.

Eine Freude anzusehen, sind die tänzerischen Leistungen, mit einem kleinen Plus auf der Männerseite, des guten bis exzellenten Ensembles.


Premiere im Theater Kiel am 27.1.07
Gesehene Vorstellung: 17.2.07

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