Diaghilew und kein Ende

„Monaco Dance Forum et Les Ballets de Monte-Carlo célébrents Le Centenaire des Ballets Russes“

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Stuttgart, 09/11/2009

Da hatten wir doch geglaubt, dass mit den Hamburger Ballett-Tagen im letzten Juni/Juli der Höhepunkt der Festivitäten aus Anlass des Hundert-Jahre-Jubiläums der Ballets Russes von Diaghilew erreicht sei. Und es war ja auch eine gewaltige Kraftanstrengung, die John Neumeier und seine Kompanie in jenen Tagen und Wochen gestemmt haben, einschließlich der sensationellen Nijinsky-Ausstellung „Tanz der Farben“ in der Hamburger Kunsthalle.

Und jetzt erreicht uns die Ankündigung der vom 9. Dezember 2009 bis zum 18. Juli 2010 geplanten Veranstaltungsreihe „Monaco Dance Forum et Les Ballets de Monte-Carlo célébrents Le Centenaire des Balletts Russes“ – und da stockt mir nun wahrlich der Atem ob des Programms, das einen großen Teil der ersten Adressen des zeitgenössischen Tanzes ankündigt. Allein die Kosten, die es verursacht, alle diese Persönlichkeiten und Kompanien nach Monaco einzuladen … Überrascht hat mich allerdings auch, dass unter den Ankündigungen eine Produktion fehlt, die schon im letzten Sommer bei den Ballets de Monte-Carlo zur Uraufführung gelangte: „Pavillon d‘Armide“ von Matjash Mrozewski. Das ist der kanadische Choreograf polnischer Abstammung, der, inzwischen 34 Jahre alt, 2005 für das Stuttgarter Ballett im Rahmen des Programms „Beyond Ballet“ das Stück „Avatar“ zu Musik von Owen Belton kreierte.

„Le Pavillon d‘Armide“ ist bekanntlich das erste Ballett, das beim legendären Debüt der Ballets Russes in Paris 1900 getanzt wurde, in der Choreografie von Michail Fokine zur Musik von Nikolai Tscherepnin und der Ausstattung von Alexandre Benois, mit Nijinsky, Karsawina und Baldina in den Hauptrollen. Neumeier hat es in Hamburg einer gründlichen Revision unterworfen und eine neue Handlung erfunden: Nijinsky mit seiner Frau auf dem Weg ins Sanatorium von Kreuzlingen, wo er als Patient in seinen Fieberträumen, angeregt durch eine Reproduktion von Benois‘ originalem Bühnenbildentwurf – eben jenes Pavillons mit einem Gobelin, auf dem die Verführung des Kreuzritters Rinaldo durch die Zauberin Armida dargestellt wird – in die großen Rollen seiner Karriere zurückkatapultiert wird, um als Gottesnarr endgültig der Wirklichkeit verlustig zu gehen. Ich halte es für eins der besten Handlungsballette aller Zeiten und verließ tief erschüttert die beiden Hamburger Vorstellungen, in denen ich es zu sehen bekam, bevor das Hamburg Ballett dann damit beim St. Petersburger Diaghilew-Festival gastierte (eine ungemeine Ehre, diese Einladung nach St. Petersburg so kurz nach der Hamburger Premiere).

Da war ich doppelt gespannt, wie denn wohl Neumeiers kanadischer Kollege mit dieser Vorlage umgehen würde. Ich habe keine dieser Vorstellungen in Monte-Carlo gesehen, von denen ich überhaupt erst hinterher erfahren habe. Daraufhin habe ich bei Mrozewski angefragt, ob es vielleicht eine Video-Aufzeichnung oder eine DVD seiner Produktion gäbe. Er war so freundlich, mir eine DVD mit einer abgefilmten Vorstellung seines Balletts zukommen zu lassen – mit ein paar sparsamen Anmerkungen über sein Konzept, das nichts mit dem Original von Fokine zu tun hat, auch Benois nicht zitiert, und für das er sich eine neue Musik von dem englischen Komponisten Scanner komponieren ließ, die sich auf Ausschnitte aus Händel-Opern stützt und wie eine Ohrwurm-Passacaglia durch die halbstündige Aufführung windet. Es ist eine lieblos abgefilmte Vorstellung – vielleicht die Generalprobe? Ein paar kryptische Anmerkungen erklären, dass das Ballett „Armides Erinnerungen an den großen Widerstreit zwischen Liebe und dem Verlassenwerden von ihrem Liebhaber“ reflektiert.

Fünf weitere Paare verkörpern einzelne Stationen der Liebe. Ich habe nicht einmal die große Liebe zwischen Armide und Rinaldo entdeckt, geschweige denn deren unterschiedliche Stadien, ja die Aufnahmetechnik ist so miserabel, dass ich Schwierigkeiten hatte, das Liebespaar als solches zu erkennen – so wenig unterscheidet es sich von den anderen. Getanzt wird vor einem anonymen gewellten Hintergrunds-Paravent, auf neoklassischer Basis mit ein paar modernen Entlehnungen. Immer elegant, ganz ohne sinnliche Verführungskraft – nicht im mindesten etwas von der überwältigenden erotischen Leidenschaftlichkeit des zugrundeliegenden Tasso-Textes oder der lodernd entflammten Musik Händels kommunizierend. Ein Ballett, hübsch anzusehen und herzlich nichtssagend. Verständlich, dass es nicht ins offizielle Programm der Diaghilew-Festivitäten aufgenommen wurde.

Erstaunlich finde ich es, dass es anlässlich des Diaghilew-Jubiläums kein großes neues Buch über diesen Magier des Theaters gegeben hat – in der Art, wie sie Julie Kavanagh über Ashton und Nurejew vorgelegt hat. Gewiss, wir haben die auch in deutscher Sprache vorliegende Standard-Biografie von Richard Buckle. Aber ist damit alles über diese einzigartige Persönlichkeit der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts gesagt? Haben wir vierzig Jahre nach Buckle nichts Neues mehr über Diaghilew zu sagen? Gewünscht hätte ich mir, dass sich ein Autor vom Format Martin Dubermans (Verfasser der überwältigenden „The Worlds of Lincoln Kirstein“ – meiner Meinung nach eine der wichtigsten Buchpublikationen über das Ballett, die in den letzten Jahren erschienen sind) seiner angenommen hätte. Aber wenigstens gibt es das brandneue Taschenbuch „Serge Diaghilew. Apologie der Avantgarde. Memoiren aus dem Nachlass“, das gerade bei Schott in der Serie Musik erschienen ist (ISBN 978-3-254-08415-6).

Das ist ein kurioses Sammelsurium, bestehend aus einem höchst originellen Vorwort des französischen Herausgebers Guillaume de Sardes, dem sich unter dem Titel „Memoiren“ Aufzeichnungen von Diaghilew über Mussorgskys „Boris Godunow“, „Puschkins Briefe“, „Dornröschen“, „Ruslan und Ludmilla“ von Glinka, Mussorgskys „Chowantschschina“ und „Jolanta“ von Tschaikowsky anschließen. Sie entstammen, so heißt es, dem in der Pariser Bibliothéque National de France befindlichen Nachlass von Diaghilew und sind erst kürzlich veröffentlicht worden. Wie konnten derartige Aufzeichnungen von Diaghilews eigener Hand so lange in einem französischen Archiv vor sich hin stauben? Anschließend gibt es drei Seiten einer „Apologie der Avantgarde“, in der sich Diaghilew bitter über das Unverständnis der Kritiker anlässlich der Produktion von Prokofjew und Larionows „Chout“ beklagt. Weiter geht es mit dem Anhang: „Diaghilew, wie Paul Morand ihn sah“, gefolgt von „Diaghilew, wie Robert Brussel ihn sah“ – zwei durchaus kennenswerte Porträts des russischen Impresarios. Den Schluss bildet dann eine nützliche Chronologie, der noch weitere Anmerkungen zur französischen Edition der „Memoiren“, eine zweiseitige Bibliografie und ein Register folgen. Das ist alles ganz hübsch und fördert ein paar neue Facts ans Tageslicht, macht aber letzten Endes doch den Eindruck eines zusammengeklaubten Konglomerats, dessen Hauptverdienst sein relativ billiger Preis (14,95 €) ist.

 

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