Marco Goeckes „Fly Paper Bird“ an der Wiener Staatsoper: D. Tariello, M. Menha

Marco Goeckes „Fly Paper Bird“ an der Wiener Staatsoper: D. Tariello, M. Menha

Vom Durchhalten in Corona-Zeiten

Das Wiener Staatsballett und seine Akademie unter Martin Schläpfer

Martin Schläpfers Mut in Corona-Zeiten ist bewundernswert, seine Position keine einfache. Nach der klassizistischen Linie von Manuel Legris mischt er Repertoire und Ästhetik auf. Ein Blick auf den Wandel des Wiener Staatsballetts.

Wien, 18/01/2022

„Lust zum Absturz!“ – korrigiert Martin Schläpfer spontan bei der sonntäglichen Ballettakademie-Matinee in der Wiener Staatsoper ermutigend die junge Tänzerin, die mit Partner vor Publikum die für diesen Anlass nicht fertiggewordene Uraufführung "Jamie" zu Bachs Englischer Suite Nr.2 probt, und – gesichert – mit dem Kopf nach unten unterwegs ist.

Es ist eine fein geschliffene Körperarbeit, die Schläpfer verbal und anschaulich zu vermitteln sucht und dabei keine Scheu hat, sich selbst für die verlangte Bewegungspose elastisch auf den Boden gleiten zu lassen, um mit den nach oben gestreckten Beinen vorzuzeigen, was er sich wünscht. Es ist eine klassisch grundierte Ballettarbeit, die in eine eigenwillig angereicherte, sehr spezifisch erscheinende bodennahe Körperbild-Sprache mit Stop-and-Go-Akzentuierungen mündet, die der traditionellen Ballett-Idee von Schwerkraft-Überwindung immer wieder entgegengesetzt.

Wenige Minuten zuvor hatte Wiens Ballettdirektor (seit 2020) ausführlich seinen Dank an Schüler*innen und Eltern adressiert, auf die Schul-Präsentation trotz Corona-Zeiten (vier Lockdowns bisher in Österreich) gesetzt zu haben. Nach dem Öffentlichwerden von Fehlverhalten und nicht mehr zeitgemäßen Anschauungen zur Tänzer*innen-Erziehung im Lehrkörper war 2019, noch während der Leitung des Vorgängers Manuel Legris (2010 - 2020), eine Kommission zum Kindeswohl eingesetzt worden. Ein spezifisches Kindeswohl-Team wurde daraufhin auch in die Schulstruktur eingebaut. Die neu bestellte Chefin Christiana Stefanou eröffnete ihre erste Leistungsschau nun mit einer Modern – und Contemporary Class Work, für die auch Worte der Klimaaktivistin Greta Thunberg eingespielt wurden, deren Dringlichkeit sich vor allem in den ernsten Mienen der Schüler*innen widerspiegelte. Nach der Pause folgte Klassik mit einem umfangreichen Raymonda-Block, bei dem sich die zahlreichen Einstudierenden auf Konstantin Sergejews Fassung berufen, man u.a. über den Sinn von heute übertriebenen Kopfdrehungen streiten kann, gefolgt von Gioconda‘s "Smile", einer liebenswürdig umständlichen Uraufführung der Direktorin. Ballettschul-Matineen haben ihre eigenen Gesetze. Welches Niveau die alljährliche künstlerische oder doch mehr pädagogische Präsentation erreichen soll, welche Ästhetik vermittelt werden soll, ob Lehrende choreografieren müssen, sollte sorgsam überdacht werden.

Martin Schläpfers Mut in Corona-Zeiten ist bewundernswert, seine Position insgesamt keine einfache. In der aktuellen Saison sind 102 Tänzer*innen für rund 100 Aufführungen in gut sieben bis acht, teils sehr kleinteilig angelegten Premierenabenden in der Staats- und in der Volksoper geplant. In der ersten Saison 2020/21 entfielen Teile der Spielzeit wegen Corona; auch in der zweiten folgte ein dreiwöchiger Lockdown, einzelne Vorstellungen fielen wegen Corona-Erkrankungen aus. Es lässt sich also bestenfalls fragmentarisch etwas ablesen. Klar ist aber, dass Schläpfer nach der klassizistischen Linie von Manuel Legris, hinter der wohl immer Groß-Paris als Absicht stand, Repertoire und Ästhetik neu aufmischt. Das hat seine Vor- und Nachteile. Individualitäten werden sichtbarer, es wird gelöster und „lebendiger“ getanzt, das Repertoire wird breiter in Richtung eines weiten Begriffs von Moderne (Childs, Cunningham, Keersmaeker) aber auch ein Verlust der klassischen Linie, die Legris ins Extreme zu ziehen wusste, geht damit unweigerlich einher. Legris setzte auf Einheitlichkeit und zog zum von Vorgänger Gyula Harangozó überlassenem Ensemble aus vorwiegend Tänzer*innen des ehemaligen Ostens junge Tänzer*innen heran. Mit Schläpfer verändert sich das Tänzerbild, etliche Ensemble-Mitglieder hatten die Wiener Staatsoper verlassen, unter den Neuengagierten, viele aus Schläpfers Netzwerk, sind nun auch ältere Tänzer*innen. Schmerzlich war u.a. der Abgang von Jakob Feyferlik.

Vieles muss erst wieder erarbeitet werden, will man der Tradition verpflichtete Klassiker weiterhin spielen. Diese wurden allerdings in der aktuellen Spielzeit mit vierzehn Vorstellungen insgesamt knapp gehalten: Onegin, soeben wirkungsvoll absolviert mit unterschiedlichen Besetzungen, Giselle, Schwanensee. Bei aller logischen Notwendigkeit der Pflege eines modernen, zeitgemäßen Repertoires und Neukreationen, die im besten Fall Wien wegen seiner Uraufführungen aufleuchten lassen, bestand der künstlerische Rückhalt des Wiener Staatsballetts seit Jahrzehnten in der Pflege abendfüllender Klassiker. Dass auch diese immer wieder einer Erneuerung bedürfen, versteht sich von selbst.

Und: Immer noch dringt in alle Ritzen die Corona-Pandemie ein, die schon Schläpfers Einstand für das gesamte Ensemble, die Live-Premiere 4, gemeint ist die 4. Symphonie von Gustav Mahler, unmöglich gemacht hatte. Via Arte Live-Stream konnte man zuschauen, wie die sehr unterschiedlichen Tänzer*innen einander begegnen, wie Schläpfer ausprobiert, diese große Gruppe in seinen Sog zu bringen.

Mehrere Programme ließen seither sehr unterschiedliche choreografische und tänzerische Qualitäten erkennen. Zwischen Schläpfers in modischer Tracht neu eingekleideter, ursprünglich 2006 in Mainz herausgebrachter Tanzfolge "Marsch, Walzer, Polka" und einer mediokren Darbietung von Balanchines Symphonie in C wurde Marco Goeckes Uraufführung "Fly Paper Bird" auch wegen seines speziellen Umgangs mit Mahler zum Höhepunkt des vergangenen Herbstes. Scheinbar leichtgewichtiger mutete der vor wenigen Tagen auf die Bühne gebrachte Abend "Liebeslieder" an. Dabei sind die Schuhstapfen für alle Tänzer*innen groß, die Jerome Robbins‘ Gala-Finesse "Other Dances" interpretieren sollen. Natalia Makarova und Mikhail Baryshnikovs damals auch in Wien vorgestellte scheinbare Leichtigkeit und Fluidität, ihr spielerischer, fast freier Umgang mit den Chopinschen "Mazurken" bleibt unerreicht. Nun machten Hyo-Jung Kang und Davide Dato, gecoacht von Isabelle Guèrin, immerhin gute Figur. Lucinda Childs‘ wundersam ausgetüftelte, virtuose Raumwegeplanung "Concerto" (1993) für sieben Tänzer*innen zum prominenten Cembalo-Konzert von Gorecki faszinierte das Publikum.

Zum Schluss dieses amerikanischen Abends: George Balanchines „Liebeslieder Walzer“ (Brahms) nach Wien gebracht zu haben, war 1977 ein großer Stolz des damaligen Direktors Gerhard Brunner. Mister B. hat damit sein Faible für den Walzer so erfindungsreich für vier Paare choreografiert, dass sich Fadesse nur dann einstellt, wenn der nötige Drive im Zusammenspiel mit den Pianist*innen und Sänger*innen fehlt. In der Einstudierung durch Bart Cook und Maria Calegari funktionierten Ballsaal- und nächtliche Seelenatmosphäre.

Bereits im Februar geht es Schlag auf Schlag: mit Uraufführungen von Andrey Kaydanovskiy und Martin Schläpfer, noch im April stellt der Chefchoreograf der Wiener Staatsoper mit Haydns "Jahreszeiten" ein neues abendfüllendes Ballett vor.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern