Györi Balett mit „Das Phantom der Oper“

oe
Sindelfingen, 09/02/2002

Nach Roman, Schauspiel, Film und Musical nun also auch als Ballettical – und nicht einmal schlecht, nur eben wie aus einer anderen Zeit stammend, als die Welt des abendfüllenden Handlungsballetts noch heil war. Eingerichtet und choreografiert von dem aus Bratislava stammenden Libor Vaculik, Jahrgang 1957, der uns schon aus Prag mit „Psycho“ à la Hitchcock beglückt hat. Das Monster bleibt Monster und haust weiterhin in den Verliesen der Pariser Opéra – der Konflikt ist ein bisschen umgebogen, statt der rivalisierenden Sängerinnen sind es hier also zwei Tänzerinnen, die eine Primaballerina, die andere (deren sich das Phantom sozusagen als Entwicklungshelfer annimmt), blutjunge Elevin. Beide lieben den gleichen Schnösel der Pariser Hautvolee – das Phantom indessen ist unsterblich in die Elevin verliebt, die ihm von Herzen zugetan ist, aber durch sein verunstaltetes Antlitz abgeschreckt wird: eine Alternativversion also zu „La Belle et la Bête“.

Vaculik ist als Choreograf ein solider Theaterhandwerker, der sein Metier aus dem Effeff beherrscht und hier, unterstützt von der Ausstatterin Judit Gombár und zu einem Musikmix aus Weber (viel „Freischütz“), Adam (natürlich „Giselle“), Liszt, Sarasate, Bruch und Massenet (nebst einigen anderen), sein „Tanzdrama“ in zwei Akten nach dem gleichnamigen Roman von Gaston Leroux präsentiert. Er kann erzählen, Rollen scharf und charakteristisch profilieren, liebt große und starke Kontraste, scheut vor Theaterdampf nicht zurück, prunkt mit großen Gefühlen – ein Entertainer, der sein Publikum zu unterhalten versteht. Manchmal freilich ergäbe etwas weniger ein Mehr – auch bei den immer wieder arg sich hinziehenden Schlüssen. Nicht gerade zimperlich in der Wahl seiner Mittel, offeriert er sein Stück als ein Mixtum compositum aus Ballett, Spektakel, Revue, Show, Eistanz, Modenschau, Nachtclubakt – ach ja, Engel treten auch auf, hübsche vierfünftelnackte Kerle und tanzen ihre Reigen. Wer vieles bringt ...

Choreografiert hat er das für das Györi Balett – die Kompanie des Nationaltheaters in Györ, das, halbwegs zwischen Budapest und Wien gelegen, zu habsburgischen Zeiten Raab hieß und heute ein florierendes Industriestädtchen mit dem Charme einer Residenz ist. Györ ist die Partnerstadt von Sindelfingen – und wie dieses eine Autostadt (ich weiß nicht mehr, welche Marke dort produziert wird, Mercedes ist es jedenfalls nicht). Die Kompanie gibt es seit 1979, und sie ertanzte sich rasch ein gewisses internationales Ansehen unter Iván Marko, der Startänzer bei Béjart in Brüssel gewesen war und sich dort als eine Art ungarischer Béjart versuchte. Ein paar Jahre lang fungierte sie als Bayreuther-Festspiel-Ballett einer „Tannhäuser“-Produktion. Anfang der neunziger Jahre ging Marko dann nach Budapest. Als Choreografen haben dort seither mehrfach eben Vaculik, Robert North, aber auch Robert Cohan, Ferenc Barbay und Günter Pick gearbeitet.

Leiter der Kompanie ist heute János Kiss, und er hat seine Leute gut in Schuss. Das zeigte sich jetzt beim Gastspiel in Sindelfingen selbst unter ziemlich eingeschränkten Bühnenverhältnissen. Dies ist eine Vollblutkompanie. Mit Wonne stürzen sich die gut geschulten Tänzer in ihre Rollen (und auch in ihre Knallchargen) – Ungarn sie alle – so hat es jedenfalls den Anschein –, die den Tanz offenbar mit der Muttermilch eingesogen haben. Als Rivalinnen stehen sich Barbara Bombicz und Virág Sóthy gegenüber – Bombicz als Primaballerina mit messerscharf geschliffenen Beinen und giftsprühender Attitüde, Sóthy als Elevin mit der Keuschheit ihrer sich lyrisch verströmenden Linie und mädchenhaften Anmut. Den Schnösel aus der Pariser Lebewelt tanzt Zoltán Sándor mit der Blasiertheit eines Karl Lagerfeld – was es etwas schwer macht, daran zu glauben, dass die Nachwuchsballerina (wie die Primaballerina) ihr Herz an ihn verloren, wo doch das von Ervin Müller gegebene Monster aus dem Souterrain der so viel attraktivere, elegantere und charmantere Tänzer ist – mit dieser allerdings abschreckenden Visage, die er hinter einer Maske verbirgt (und die heutzutage jeder routinierte Visagist zu korrigieren imstande wäre).

Demnächst reist das Györi Balett übrigens für zehn Vorstellungen im Joyce Theater nach New York und kehrt im März dann noch einmal für ein paar Tage mit dem Ballett „Purim“ („Esther“) von William Fomin und István Juhos nach Deutschland zurück (12. März Ahaus, 13. Lingen, 14. Landau, 15. Schweinfurt und 16./17. Fürth).

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