Ivan Cavallari choreographiert „Der letzte Kaiser“ in Schenyang

oe
Stuttgart, 03/12/2002

Einem kleinen Kreis von Interessierten berichtet Ivan Cavallari, ehemals Erster Solist beim Stuttgarter Ballett, über seine abenteuerlichen Erfahrungen bei der Einstudierung seines Balletts „Der letzte Kaiser und ich“ in China, und führt uns eine chinesische TV-Dokumentation seiner Arbeit vor. Er war ein paar Wochen lang beim Liaoning Ballett zu Gast – eine Verbindung, die durch den in Stuttgart als Impresario tätigen Jongky Goei zustande gekommen ist.

Die Kompanie, offenbar Chinas drittgrößtes klassisches Ballett, etwas über vierzig Tänzer stark, residiert in Schenyang, das ist eine Stadt, eine gute Flugstunde nördlich von Peking, und tritt dort hauptsächlich bei Parteiveranstaltungen auf. Die Tänzer müssen immer bereit sein und haben ganze vier freie Tage im Jahr. Auf dem Repertoire stehen der zweite „Schwanensee“-Akt und im Übrigen kurze Galapiecen, auch chinesische Stücke – offenbar nach der Art der russischen Balustraden-Programme, wie sie in der früheren Sowjetunion gang und gäbe waren – Kurzballette, die der in sehr ärmlichen Verhältnissen lebenden Bevölkerung ein positives Lebensgefühl vermitteln sollen.

Entsprechend skeptisch reagierten die Kulturfunktionäre auf Cavallaris Vorschlag, ein abendfüllendes Ballett über den letzten Kaiser von China choreografieren zu wollen. Das Thema ist für die Chinesen tabu – auch der Bertolucci-Film ist in China verboten. Wenn sie trotzdem der Produktion zustimmten, dann nur unter dem Vorbehalt einer Werkstattaufführung vor den Zensurbehörden, die denn auch allerlei Änderungen und Schnitte verlangten, bevor eine einzige Vorstellung in voller Ausstattung vor geladenen Gästen stattfand. Danach gaben die Behörden das Ballett frei – zunächst allerdings nur für Aufführungen im Ausland, deren Erfolg darüber entscheiden wird, ob es je in frei zugänglichen Vorstellungen auch in China gezeigt werden darf. Jetzt arbeiten Goei und Cavallari an den Vorbereitungen einer Auslandstournee, und es hat den Anschein, als ob wir „Der letzte Kaiser und ich“ im Spätfrühling im Stuttgarter Theaterhaus zu sehen bekommen – vorausgesetzt, dass es den beiden gelingt, die nötigen Sponsoren aufzutreiben.

Cavallari hält das Gastspiel für außerordentlich wichtig, da China jetzt bereit sei, die Tür auch für den Einstrom westlicher Ballettströmungen, die bisher nur einen Spalt breit geöffnet ist, aufzustoßen, wovon er sich eine fruchtbare Begegnung der so verschiedenartigen Kulturen erhofft. Begeistert erzählt er von der Arbeit mit den vorzüglich geschulten noch sehr jungen Tänzern, die Feuer und Flamme für ihren ersten Besuch im legendären Westen sind, denn Schenyang, wo sie leben und arbeiten, würden wir wohl deutsch Hintertupfingen nennen.

In dem zweitaktigen Ballett, das im ersten Teil zu traditioneller chinesischer Musik getanzt wird und im zweiten Teil dann zu Ausschnitten aus Werken von Schostakowitsch, erzählt Cavallari die Geschichte des letzten Kaisers von China, der ja als Zweijähriger auf den Thron gelangte –  und zwar erzählt er sie als Rückblende seines abenteuerlichen Lebens unter den gegensätzlichsten politischen Machtverhältnissen, und er erzählt sie klar und verständlich auch für ein westliches Publikum, auch wenn wir nicht alle symbolischen chinesischen Bezüge durchschauen. Das Ballett heißt „Der letzte Kaiser und ich“ – und das ich ist mir ein ziemliches Rätsel geblieben. Cavallari will es darauf bezogen wissen, dass die Frau des bereits als Kind zwangsverheirateten Kaisers eine wichtige Rolle spielt.

Es gibt denn auch neben allen chinesischen zeremoniellen Szenen (darunter auch eine Vorführung der Peking Oper) zwei hinreißende Pas de deux (und einen weiteren des jungen Kaisers mit seinem englischen Lehrer, den Wolfgang Stollwitzer tanzt – aus Stuttgart bestens bekannt und inzwischen beim Birmingham Royal Ballet). Man kann nur staunen, mit welch einem professionellen Elan diese jungen Tänzer über die Bühne stürmen (und was für einen Spaß sie an einer großen Charleston-Einlage haben).

Wie man denn überhaupt aus dem Staunen nicht herauskommt über die handwerkliche Gediegenheit und die sprudelnde choreografische Ideenfülle, mit der sich Ivan Cavalleri nach bisher eher kleineren tänzerischen Appetitshappen, hier als ein Mann fürs große abendfüllende Handlungsballett empfiehlt. Der scheint mir jetzt, nachdem er sehr erfolgreich zuletzt als Einstudierer von Cranko-Balletten in Budapest und London gewirkt hat, am Beginn einer Karriere zu stehen, die ich mit größter Aufmerksamkeit verfolgen werde.

Kommentare

Noch keine Beiträge