"Reclams Ballettführer" rundum erneuert

oe
Stuttgart, 09/10/2002

Mit seiner dreizehnten Auflage seit 1956 ist „Reclams Ballettführer“ das erfolgreichste deutschsprachige Buch aller Zeiten über den Tanz. Ist er auch das beste? Ich stehe nicht an, die Frage mit einem emphatischen Ja! Zu beantworten. Otto Friedrich Regner, Heinz Ludwig Schneiders und Hartmut Regitz haben die Pionierarbeit geleistet. Mit jeder Neuauflage ist er ein bisschen besser geworden, ist Überflüssiges ausgeschieden worden, sind wichtige Novitäten hinzugekommen. Doch zu einer radikalen Neugewichtung und Neubewertung haben sich weder Schneiders noch Regitz entschließen können – wohl nicht zuletzt aus Respekt gegenüber Regner.

Jetzt, in der dreizehnten Auflage, ist ein völlig neues Buch daraus geworden. Zu verdankten ist das Klaus Kieser und Katja Schneider, unseren beiden Münchner Tanz-Chronisten. Sie haben eine bewundernswerte, gründlich recherchierte Arbeit geleistet. Dazu meinen Glückwunsch! Mit seinen 616 Seiten ist das Buch klar und übersichtlich gegliedert. Auf das knappe Vorwort folgen 26 Seiten „Grundzüge des theatralen Tanzes“ – eine kompakte Geschichte des abendländischen Tanzes, an der mich nur eins stört: die modische Verwendung des Unwortes „theatral“ – sie hat sich inzwischen eingebürgert (und wird hier auch später immer wieder verwendet), wird dadurch aber nicht akzeptabler. Ich plädiere dafür, auch weiterhin bei „theatralisch“ zu bleiben. Dann folgen von „Abraxas“ bis zum „Zauberladen“ 494 Seiten Werkbeschreibungen. Und die lassen wirklich keinen Wunsch offen, bevor es zum Schluss, vor dem Anhang mit den Indices, noch 58 Seiten kurzgefasste Choreografen-Porträts gibt.

Die getroffene Auswahl ist mustergültig, die Beschreibungen sind stichhaltig, die Bewertungen nicht apodiktisch, sondern vorsichtig abwägend – auch bei schwierigen Werken (wie bei Forsythe), auch bei umstrittenen Stücken (wie bei Neumeiers „Matthäus-Passion“). Fabelhaft finde ich, wie unsere beiden Münchner Ks den Stellenwert einzelner Choreografen von Schlüsselwerken positionieren (beispielsweise Maguy Marin, Ohad Naharin, Wim Vandekeybus).

Dass nicht ein einziges Ballett von Tajana Gsovsky unter den A bis Z Werken ist, bedauere ich – und das umso mehr, da sie im Personenverzeichnis sechzehn Mal auftaucht und ich ihren „Hamlet“ (den sie nicht uraufgeführt hat) für wesentlich wichtiger für die Geschichte des deutschen Nachkriegsballetts halte als beispielsweise Heinz Rosens „Dame und das Einhorn“ (das wohl hauptsächlich der Mitwirkung Cocteaus wegen Aufnahme gefunden hat). Für ein Hauptwerk der zweiten Jahrhunderthälfte halte ich auch Robbins‘ „Dances at a Gathering“, die ich ungern vermisse. Unter den Choreografen-Porträts hätte ich mir auch Juri Grigorowitsch, Erich Walter und Jochen Ulrich gewünscht. Umso mehr freut mich, dort auch Tom Schilling vertreten zu sehen. Bei Strawinskys „Apollon musagète“ plädiere ich für eine Rückkehr zum Originaltitel (schließlich müssen wir nicht jeden Balanchine-Spleen mitvollziehen).

Also wenn ich ein einziges Tanzbuch auf meine Trauminsel mitnehmen könnte, wäre es ganz gewiss keins von oe, sondern „Reclams Ballettführer“ in der dreizehnten Auflage von 2002! (616 Seiten, 32 Seiten Farbabbildungen, 24.90)

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